Thema: Das Leben erzwingen?

Jesaja, 58, 1-9a: Falsches und echtes Fasten

1 Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden!

2 Sie suchen mich täglich und begehren meine Wege zu wissen, als wären sie ein Volk, das die Gerechtigkeit schon getan und das Recht seines Gottes nicht verlassen hätte. Sie fordern von mir Recht, sie begehren, dass Gott sich nahe.

3 »Warum fasten wir und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib und du willst's nicht wissen?« Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter.

4 Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll.

5 Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit, wenn ein Mensch seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem der HERR Wohlgefallen hat?

6 Das aber ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg!

7 Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!

8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen.

9 Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.

 

1.       Einleitung

Ziele sind in unserer Gesellschaft und unserem Denken eine feste, eine entscheidende Größe. An Zielen werden die Ergebnisse und die Erfolge oder auch Misserfolge gemessen. Wie viele Medaillen die deutschen Sportler bei der Winterolympiade gewinnen; welche Noten oder Punkte man beim Abitur, beim Test oder bei der Führerscheinprüfung erreicht; wie viel Kilo man oder frau in welcher Zeit abnimmt; wie viel Geld man in welcher Zeit verdient; wie viele Likes man bei facebook; wie viele Kontakte oder Tweets bei den social medias ereicht.

Ziele bestimmen unser Leben in einer besonderen Weise das Leben; auch die Wirtschaft. Dort in den Wirtschaftsbereichen, wo ich auch tätig bin, werden immer wieder neue Ziele gesetzt, Zielvereinbarungen aufgestellt, Zielkorridore ausgelotet und strategische Zielvorgaben ausgerufen.

Kaum ein Gespräch, auch private, richtet sich nicht um die Frage, was habe ich gemacht, erreicht, welche - auch unausgesprochenen Ziele - sind misslungen. Was willst du mal werden? Eine Frage nach einer Zielplanung. Meine Nichte ist gerade 18 und macht Abitur. Sie weiß nicht, was sie mach machen soll. Und weil alle auf Sie einreden und nachfragen, nervt das natürlich. Und sie hat nun eine Strategie entwickelt, dem zu begegnen. Sie weiß nicht, was sie will. Sie weiß, was sie nicht will. Also keine Chemie wie Papa und Mama; niemals. Aber das weiß sie dann auch nicht genau.

Ziele setzen unter Druck, fordern Entschlossenheit und Zielstrebigkeit, klare Linie. Sie können ziemlich nervig sein - sowohl in der Schule, beim Sport, im Beruf oder im Alter; z.B. wenn es um die Entscheidung für die eigene Pflege, den Umgang mit Gebrechlichkeit geht.

Zielplanung gilt als der Inbegriff der Selbständigkeit.

Und irgendwie finden wir Menschen, die so zielstrebig vorgehen, faszinierend. Kein Zaudern, jenen Morgen die Runden joggen, pünktlich und akkurat bei der Arbeit, kein Bier, Wein oder Sahnetörtchen zuviel.

Dies zielstrebige Leben scheint aber auch unter einem Zwang zu stehen. Man muss "kommunizieren", man muss abnehmen, man muss die Fernsehsendung sehen, man muss die Note schreiben, das Tor schießen, die Klamotten, das Auto, das Smartphone haben, die Punktzahl, die Enkelbesuche aufweisen. Das Leben wird dann zum Zweck von Zielvorstellungen, weil es in uns irgendwie drin scheint, das Ziel erreichen zu müssen.

2.       Bibeltext

Auch der heutige Bibeltext  beschäftigt sich mit der Frage von Zielen, von Vorgaben, von Handlungen, die scheinbar Leben erzwingen wollen. Es geht - exemplarisch - um das Fasten. Jesaja 58, 1-9a vorlesen.

Hier geht es um Fasten und zwar um das "richtige" Fasten im Angesicht Gottes. Der Schreiber hält den Judäern ihre Art vor, wie sie ein Ziel erreichen wollen. Sie wollen fasten, um Gott zu zwingen ihnen nahe zu sein. Sie wollen bei Wasser und wenig Weizenkleie ihre Körper reinigen, damit Gott in Ihnen oder bei ihnen  wohnen kann. Sie hungern - so glauben sie - für den Gott des Volkes Israel, damit sich Gott als Halt in ihrem Leben erweist. Sie wollen Gott durch Fasten sich als Stütze, als Hilfe erzwingen.

Blicken wir mal in die Zeitgeschichte, in die unserer Schreiber hineinkommuniziert. Das Buch Jesaja beschreibt entscheidende Epochen im Bewusstsein des israelitischen Volkes. Mit seinen 66 Kapiteln werden - vereinfacht ausgedrückt - drei Epochen im 8. bis 6. Jahrhundert vor Christus im heutigen Nahen Osten und Iran/Irak beschrieben.

Zunächst wird in der Kapiteln 1-39 die Geschichte von Jesaja selbst erzählt. Hier geht es um die Bedrohung des Staates Juda, welcher sich 926 (vor über 3.000 Jahren) vom Nordreich Israel nach Tod des König Salomos getrennt hat. Jesaja bericht in den ersten 39 Kapitel von der Bedrohung durch die Großmacht der Assyrer, ein im 8. Jahrhundert vergangener Staat, der heute im nördlichen und mittleren Irak gelegen wäre.

Die Kapitel 40 bis 55 des Jesajabuches, auch der Zweite oder Deutero-Jesaja genannt, berichtet von der Exilzeit in Babylon, nachdem das Königreich Juda im Jahre 587 v. Chr vom babylonischen König Nebukadnezar II (640-562 v. Chr.; Ischtar-Tor im Pergamonmuseum in Berlin!) zerstört und ein Vielzahl von Judäern nach Babylon verschleppt.

Der dritte Teil des Jesajabuches berichtet von der Zeit nach der Befreiung aus dem Exil, die im bzw. nach dem Jahr 539 v. Chr. erfolgte. Der Staat Babylon [heutiger Irak] wird durch den persischen König Kyros II [580-530 v. Chr.] - heutiger Iran, erobert und die Judäer dürfen nach über 50 Jahren wieder heimkehren.

Unser Text weiß also von der Rückkehr und berichtet von den Bemühungen der neuen Generation von "Ausländern" aus Babylon, die nun in und um Jerusalem wieder Fuß, eine neue Heimat aufbauen wollen.

Entwurzelt sind sie, weil sie in Babylon geboren sind. Juda kennen sie nur aus den Erzählungen der Eltern. Sie kommen aus der Metropole Babylon (dem New York des Altertums) nun in die Ödnis von Judäa. Von New York in den Hintertaunus - um es salopp zu sagen. In dieser Situation - wieder entwurzelt und fremd - suchen die Menschen nach Halt, nach Zielen, nach Erfolgen, nach ihrem Gott. Und sie machen dies - so der Schreiber - durch eine gnadenlose Selbstkasteiung, durch Fasten, Hungern - damit Gott ihnen Gnade schenkt. Sie wollen bei Gott mit ihrem Verhalten Heimat, Geborgenheit und Liebe erzwingen. Dass dies ebenso wenig geht wie Enkel mit Geschenken Zuneigung abzugewinnen, dürfte klar sein. Denn es ist ein Geschäft. Ich gebe dir, du gibst mir.

Ich gebe dir (Fasten, einen Besuch, ein Like, meine Arbeitskraft) und du gibst mir (Geld, Anerkennung, Beachtung).

Was ist aber das richtige Fasten?

6 Das aber ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg!

7 Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!

III. Christologisch - Leben leben

Hört sich das nicht klasse an? Fasten ist nicht um meinetwillen, nicht mein Ziel, sondern die Befreiung des anderen. Ziele sind nicht meine Ziele nach Erfolg, sondern die Wünsche und Sehnsüchte von denen, mit denen ich zusammenlebe. "Brich dem Hungrigen dein Bot". Toll; nicht?

Aber auch das hat einen Haken. Denn als Christen wissen wir, dass es o einfach nicht geht. Wir geben alles auf für andere.

Wir können noch so für die eigenen oder die Ziele anderer rennen, noch so viel Bioprodukte, Ökoenergie, Spenden oder Nächstenliebe produzieren, wir werden dadurch nicht Gott näher kommen. Wir können Gott mit Leistung nicht zwingen, uns wohlgefällig zu sein.

Denn - und das ist der wirklich entscheidende Satz des Evangeliums zum Thema (Lebens-)ziele: Wer am Ziel ist, ist am Ende.

Wer am Ziel ist, ist am Ende!  Wer sich auf die eigene Zielerreichung verlässt in seinem Leben, mag Ruhm, Schönheit, Muskeln, Geld oder Anerkennung finden. Es bleiben aber immer nur Etappenziele und die letzte Etappe im Leben bleibt dann das Ende. Keine Hoffnung auf neue Ziele. Kein neues Loslaufen zu den nächsten Galaxien der eigenen Hoffnung.

Es bleibt - und dass ist die Botschaft des Evangeliums - ein unerfülltes Laufen nach eigenen Zielen. Und so ist die heutige Diskussion um einen "würdigen" Tod, als dem geplanten, zielgerichteten Selbstmord zu verstehen. Die eigene letzte Handlung soll noch ein Ziel haben und selbstbestimmt sein.

Denn: Erst das Loslassen von Zielen, von der Selbstbestimmung, der eigenen Fähigkeit vermag es nach dem Evangelium, sich in die Gnade Gottes zu begeben. Es ist - so die evangelische Botschaft -  eine Illusion zu glauben, dass die Schönheits-OPs schön machen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass Wissen gebildet macht. Dass Geld Anerkenntnis und Sicherheit vermittelt. Oder dass Facebook, Tweets oder andere Foren Freundschaft erzeugt. Dass Kommunikation Geborgenheit vermittelt.

4. Leben leben statt erzwingen

Deshalb ist die Devise so einfach wie schwer: Wir leben Leben, wir "zielerreichen" es nicht. Und sind wir in der Wirtschaft, in der Kirche oder im Privaten mal ehrlich, dann sind es gerade NICHT die Ziele, die das Leben so lebenswert machen. Denn Liebe, Geborgenheit, Glück, Sicherheit, Freundschaft oder Hoffnung findet sich doch nicht in einem Masterplan der Lebensgestaltung, des Zeitmanagements oder der Finanzplanung. Es findet sich in den ungeplanten Dingen, die uns freudig, traurig, gefühlt oder irritierend machen. Die ungeplante Möglichkeit ins Ausland zu gehen. Die schwierige Versetzung an eine andere Arbeitsstelle. Die ungezwungene Begegnung, die Liebe ermöglicht. Ja, auch das Ehrenjahr in einer Klasse. Nicht alles, was Mist ist, ist auch Mist, sondern der Dung für Neues, Ungeplantes.

Wer glaubt sein Leben in Zielen und Schritten zu planen und zu leben, wird eines erfahren müssen: Gott lässt sich nicht mit (m)einem Masterplan zwingen, das Leben auch nicht. Denn - unser Ziel ist unser Ende. Das Ende des Leben, welches ich in Etappen gelebt oder nur geplant habe. Geplant und dann - wie bei einer Freundin erlebt - der Mann, der die Planung nicht mehr mitmacht. Die Bank, die einen anderen Plan hat. Der Arbeitgeber, der verkauft wird. Die Kinder, die nicht geraten, sondern flügge werden. Die Schwiegertochter, die unmöglich ist; der Schwiegervater auch.

Wer am Ziel ist, ist am Ende. Wer Leben erzwingen will, auch. Das will der Text uns heute vermitteln.

Nichts gegen Planungen. Aber alles gegen die falsche Heilsgewissheit, dass in der menschlichen Planung - gezwungen sozusagen - der Segen Gottes liegt. Und es ist Nonsens zu glauben, dass es menschliche, unsere Ziele geben kann auf dem Weg zum Evangelium, zur Gnade Gottes.

Sicher: Fasten kann eine heilsame Wirkung entfalten, wenn es keine Bedingung, kein Lebensinhalt wird. Es ist aber nicht der Weg zum Heil.

Am Mittwoch beginnt wieder die Aktion 7 Wochen ohne. Sicher eine Möglichkeit innezuhalten. Aber auch eine Gefahr, wenn es nicht um die Besinnung auf unser Leben und die eigene Endlichkeit geht. Nicht fasten, sondern das Leben zu leben ist die Aufgabe.

Und das ist die Botschaft für den heutigen Sonntag Estomihi: Lebe dein Leben, erzwinge es nicht, denn der Herr sei mir ein Fels und nicht meine selbst gesetzten Ziele.

Amen

 

 

Und die Gnade Gottes sie mir und uns ein starker Fels in dem Meer des Lebens. Amen.

 

Lied 412, 4-7


 

Predigttext: Jes 58, 1-9a