Thema: Ambivalenz - Irre, Leben
Predigttext: Klagelieder Jeremias 3,22-26.31-32
22 Die Güte des HERRN ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende,
23 sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.
24 Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen.
25 Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt.
26 Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen.
27 Es ist ein köstlich Ding für einen Mann, dass er das Joch in seiner Jugend trage.
28 Er sitze einsam und schweige, wenn Gott es ihm auferlegt,
29 und stecke seinen Mund in den Staub; vielleicht ist noch Hoffnung.
30 Er biete die Backe dar dem, der ihn schlägt, und lasse sich viel Schmach antun.
31 Denn der HERR verstößt nicht ewig;
32 sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.
Ambivalenz ist ein recht
junges Wort. Der Begriff „Ambivalenz“ wurde erst vor 100 Jahren durch den
Psychiater Eugen Bleuler (1910) erstmals verwendet. Bleuler führte den
Begriff in die Psychiatrie ein, die damals noich Irrenhäuser hießen. Er sah
in seinem erfundenen Begriff „Ambivalenz“ eine der Ursachen für psychische
Krankheiten der Menschen. Dabei setzte er den neuen Begriff „Ambivalenz“ aus
den lateinischen Worten „Ambo“ (für BEIDE) und „valere“ (für „gelten“)
zusammen.
Ambivalenz meint also: Es gelten zwei widerstreitende Dinge gleichzeitig.
Würde man es heute übersetzen, müsste man Ambivalenz eigentlich mit
„zwiespältig“ übersetzen.
Es geht also nicht – wie heut fälschlich immer wieder das Wort verwendet
wird – um zwei Dinger einer Sache, also umgangssprachlich um die „beiden
Seiten einer Medaille“, sondern um etwas anderes. Es geht um
Zwiespältigkeit, wenn zwei Aspekte einer Sache sich unerbittlich bekämpfen.
Bleuler war sich als Psychiater bewusst, dass es in Menschen eine
widerstreitende, zwiespältige Natur geben kann. Verschiedene, sich
gegenseitig eigentlich ausschließende Neigungen, Ansichten, Vorstellungen
oder Handlungsoptionen stehen sich gegenüber; meist unversöhnlich gegenüber.
Krankhaft wird es, wenn diese beiden widerstreitenden Pole in einem
gegenseitigen Kampf eintreten und nicht mehr unter Kontrolle gebracht werden
können und somit das Ambivalente, das Zwiespältige die Hoheit im Leben und
Handeln gewinnt.
Wollte man heute Beispiele für die Ambivalenz finden, so ist der Begriff
„Hassliebe“ zuerst zu nennen. Menschen oder Etwas zu lieben und gleichzeitig
zu hassen, das ist zwiespältig, ambivalent. Wenn der Kampf zwischen dem
einen und dem anderen den Menschen verzehrt, dann wird es krankhaft.
Einfache ambivalente Beispiele sind:
· Ich bin ein Superstar und doch noch nicht entdeckt.
· Ich bin reich, aber das Konto steht noch im Soll.
· Ich bin Top im Job, aber noch kein Manager.
· Ich bin liebenswert, habe aber noch niemand gefunden, der mich so liebt, wie ich bin.
· Ich kann noch alles selbst, nur meine Rollator klemmt immer.
· Ich bin gesund, die Blutdruckanzeige muss kaputt sein.
· Ich liebe meine Kinder, meinen Partner, aber ab und an könnte ich die an die Wand klatschen.
· Ich bin ein friedlicher Mensch, wenn nur der Nachbar mich ließe.
· Ich bin tolerant, wenn die ganzen Griechen nicht meine Euro wollten.
· Ich glaube an Gott, aber Kirche braucht doch niemand.
Ambivalenzen im Leben sind häufig auch die eigenen Formen des Selbstbetrugs, um das eigene Leben mir selbst angenehmer zu reden oder zu denken. Der Widerstreit, wie ich mich sehen will und mich im Spiegel sehe oder andere Menschen mich sehen. Die ambivalenten Aspekten, seien es Gefühle, Vorstellungen oder Ansichten, ist letztlich das Hin und Hergeworfen sein als Mensch, wenn zwei Pole dazu drängen. Ich werde zu einem Eisenstück, welches zwischen den widerstreitenden Polen hin und her gerissen wird. Und das Verrückte, das Irre daran: Dies ist ein normaler Bestandteil im Leben.
Auch der heutige Bibeltext
beschäftigt sich Ambivalenz. Dem Zwiespältigen im Glauben, wenn das Leben
nicht so ist, wie ich es mir erträume, erwünsche oder erwarte.
Die Klagelieder des Jeremia sind ein alttestamtlicher Text; ungefähr 2500
Jahre alt; also um 500 vor Christus geschrieben.
Im Latein wird das Buch auch Lamentationes, die Lamentierungen des Jeremia
genannt. Das lamentiert, da beklagt, betrauert, beweint, flennt, plärrt,
quäkt, quengelt, schluchzt und jammert (alles Synonyme von Lamentieren), der
Schreiber die Zerstörung Jerusalems und des israelitischen Tempel im Jahr
586 vor Christus durch den babylonischen König Nebukadnezar, den II (Nabu-kudurri-usur
II., 640 – 562 v. Chr.).
Diese historisch durch Keilschriften aus Babylon gut belegte Versklavung
Israels führt zum Untergang Israels. Noch heute können wir im Berliner
Pergamonmuseum beispielsweise das restaurierte Siegestor, das Ischtar-Tor,
von Nebukadnezar II. uns ansehen.
Das Lamentieren des Autors ist das Nichtverstehen, warum der allmächtige
Gott, sein Volk hat untergehen lassen. Wie kann jemand mein allmächtiger
Gott sein und sich so gegen mich stellen? Das ist doch schizophren, das ist
ambivalent.
Wie kann Israel erwähltes Volk Gottes sein, und Gott es scheinbar verlassen
hat? Die Klagelieder, es sind wirkliche Lieder nach der Struktur einer
Totenklage, werden zum Sterben, dem Untergehen des Staats Israel im Jahr 586
v. Chr. verfasst sind. Sie sind Ausdruck einer Verzweiflung, wenn etwas
nicht mehr rückgängig gemacht werden kann und man zutiefst enttäuscht wurde.
Trauer, Klage bei Tod, bei Fällen, wo ich Opfer nicht Täter bin.
Wie kann Gott es zulassen, dass sein Tempel und sein Volk so gedemütigt
werden. Alles verstehen hilft nichts. Alle Erklärungen bringen die Trauer
nicht besänftigt. Jede Logik geht unter im Angesicht der Endlichkeit der
Menschlichkeit und ihre Werke.
Nicht nur damals ist die
Ambivalenz, das Zwiespältige in unserem heutigen Leben. Auch wir wissen um
das Zwiespältige in unserem Glauben. Luther hat diese Ambivalenz vor 500
Jahren ziemlich gut beschrieben. Schlagen Sie mal die Nr. 806 im Gesamtbuch
auf!.
Dort finden Sie den „Kleinen Katechismus“, die kleine Glaubenslehre Luthers
an die jungen Protestanten und damit nicht nur die Konfirmanden gemeint!
Erstes Gebot: Luthers Erklärung: Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten,
lieben und vertrauen“. Fürchten, lieben und vertrauen. Eine irre
Kombination. Ich fürchte meinen Job, liebe ihn und vertraue ihm. Ich liebe
meinen Partner, fürchte ihn/sie und vertraue ihm oder ihr. Irre – oder.
Das Leben und der Glauben bilden bei Luther eine Einheit. Weil nämlich beide
zwiespältig sind. Sie sind nicht logisch. Sie lassen sich nicht berechnen
und vorhersehen. Sie sind nicht juristisch einklagbar. Auch keine noch so
gesetzlich korrekte Handlung garantiert einen linearen, planbaren oder
gesicherten Erfolg. Nein, ambivalentes Leben, das Leben im Angesicht der
eigenen Unzulänglichkeit, der eigenen Endlichkeit, ist nichts anders als ein
Leben sicherer Unsicherheit und unsicherer Sicherheit.
Nicht wir vermögen und selbst zu retten. Nicht wir halten dieses Fürchten
und Lieben, Leben und Leiden aus, sondern es wird uns als ein Geschenk
überlassen. Bedingungsloses Vertrauen und Liebe, die uns in der
zwiespältigen Lebenseinheit bis zum eigenen Tod begleitet. Das Lamentieren
über dieses Hin- und Hergeworfensein lässt sich nur dann ertragen, wenn wir
lernen mit Zwiespalt, mit ungeraden Zahlen, mit Unsicherheit und ohne
Rechtsschutzversicherung gegenüber der Endlichkeit des Leben zu leben.
Nichts anders ist die Ambivalenz des Protestantischen. Wir als Menschen sind
auf uns selbst, auf unserer Mängel, Fehler und unsere Endlichkeit
zurückgeworfen. Kein Gesetz, keine Versicherung und keine Kirche und schon
recht kein Papst retten uns, sondern allein das Geschenk, mit Ambivalenz zu
leben. Sterben und Auferstehen, Leiden und Lieben, Glauben und Bangen,
sondern dann nicht die beiden Seiten einer Medaille, sondern ein Aspekt der
eigenen ambivalenten Situation meines Leben.
So werde ich für mich sterben, für mich verzweifeln und für mich um Wahrhaftigkeit ringen müssen. Und zugleich werde ich mich gehalten und getragen wissen in der Güte und Gnade, dass das eigene Leben gelingt, das Lieben möglich wird und das eigene Sterben nicht Angst, sondern Leben bedeutet.
Wenn das tägliche Irre sein und tägliche Irre werden an den Zwiespältigen Aspekten im Leben nicht die Herrschaft über das eigene Leben gewinnt, dann ist Ambivalenz keine Bedrohung oder ein Thema für die diesseitige Irrenanstalt, sondern geradezu Triebfeder des eigenen Lebens und der Gestaltung von Leben.
· Wenn „Deutschland sucht den Superstar“ noch nicht bei mir angerufen hat und ich dies locker nehmen kann.
· Wenn mein Vermögen nicht Herr über mich wird, sondern ich über Vermögen, weil ich – mit Luther - keinen Gott daraus gemacht habe, indem ich mein Herz allein ans Geld hänge.
· Wenn Liebe nicht Zwang, sondern Gestaltungsfreiheit ist.
· Wenn mit Moral nicht die Aufgabe als Blockwart/Blockwartin gesehen wird, was andere falsch machen, sondern als sittsame Hilfe gemeinsames Leben zu gestalten.
· Wenn Glaube nicht Gesetz wird, sondern bedingungsloses Geschenk ist, dann ist Ambivalenz Triebfeder des Lebens und nicht der Abgrund in die menschliche Irre.
Das ambivalente Leben, das Leben in der Gewissheit der Zwiespältigkeit ist keine Gefahr, sondern ein normaler Zustand, der in der Gnade Gottes, durch das Geschenk des Heilwerdens das Irre gehen im Leben überwindet.
Und das ist die Botschaft für den heutigen Tag: Lebe ambivalent, weil du getragen bis von Gottes Gnade. Amen.
Und die Gnade Gottes weist uns den Weg in diesem Leben. Eröffnet unser Umher-Irren im Leben als Weg in die Zukunft. Amen.