Thema: Das Mehr im Leben unseres Lebens (Joh 6, 55-65)

„Freue dich (lat.: Lätare), Stadt Jerusalem, und kommt zusammen alle, die ihr sie liebt! Seid fröhlich mit ihr, alle, die ihr (über sie) traurig wart. Freut euch und trinkt euch satt an den Brüsten eurer Tröstung.“ (Jesaja66,10-11)

 

Predigttext: Joh, 6, 55-65

 

55 Denn mein Fleisch ist die wahre Speise, und mein Blut ist der wahre Trank.

56 Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm.

57 Wie mich der lebendige Vater gesandt hat und ich lebe um des Vaters willen, so wird auch, wer mich isst, leben um meinetwillen.

58 Dies ist das Brot, das vom Himmel gekommen ist. Es ist nicht wie bei den Vätern, die gegessen haben und gestorben sind. Wer dies Brot isst, der wird leben in Ewigkeit.

59 Das sagte er in der Synagoge, als er in Kapernaum lehrte.

60 Viele nun seiner Jünger, die das hörten, sprachen: Das ist eine harte Rede; wer kann sie hören?

61 Da Jesus aber bei sich selbst merkte, dass seine Jünger darüber murrten, sprach er zu ihnen: Ärgert euch das?

62 Wie, wenn ihr nun sehen werdet den Menschensohn auffahren dahin, wo er zuvor war?

63 Der Geist ist's, der lebendig macht; das Fleisch ist nichts nütze. Die Worte, die ich zu euch geredet habe, die sind Geist und sind Leben.

64 Aber es gibt einige unter euch, die glauben nicht. Denn Jesus wusste von Anfang an, wer die waren, die nicht glaubten, und wer ihn verraten würde.

65 Und er sprach: Darum habe ich euch gesagt: Niemand kann zu mir kommen, es sei ihm denn vom Vater gegeben.

 

1.      Einleitung

Wenn man heute ein Foto von seinem Gehirn, seiner Wirbelsäule oder Knie haben möchte, gibt es ein Verfahren, um in sich selbst hineinzuschauen, ohne dass man den Schädel aufbohren muss oder ein Chirurg mit dem Messer an uns rumschneidet. Diese Verfahren ist unter seiner Abkürzung als „MRT-Verfahren“ oder Magnet-Resonanz-Tomographie bekannt. Ich gehe davon aus, dass einige von Ihnen schon mal in einem Gerät (dieser „Röhre“) lagen, das Bilder/Fotos von unserem Inneren erzeugt. Wie schon das „Röntgen“ ist das MRT Verfahren eine Möglichkeit in etwas am Menschen hineinzusehen, ohne dass man es an uns öffnen muss. Dieses Bildgebungsverfahren ist so verblüffend wie einfach. Das Gerät macht viele einzelne Schnittbilder von Gehirn oder Knie, indem zunächst bestimmte Atomkerne in unserem Körper (also noch kleiner Teile meines Innersten) magnetisch resonant angeregt werden. Diese resonante Schwingungen werden dann empfangen und als Schichtbilder wieder zusammengesetzt. So entsteht meist graue, häufig auch bunte Bilder von unserem Gehirn, der Wirbelsäule oder dem Knie, die den Eindruck vermitteln, dass der gesamte Kopf oder die Wirbelsäule als ganzes „fotografiert“ sei.

Das Besondere des Verfahrens kann man aber nur dann neutral betrachten, wenn man nicht Ängste davor hat, was diese Bilder uns über unseren Zustand oder die Gefahren zeigen. Wer in eine „Röhre“ muss oder geht, hat meist ein Problem oder Angst, es könnte ein Problem sein. Angst vor Demenz, also der komplexen Krankheit, dass Gehirn und Nerven nicht mehr so wollen, wie sie sollen; bis hin zu Sprach-, Bewegungs- oder Agnostie. Agnostischen Menschen gehen die Bezeichnung von Dingen verloren und diese wird mit anderen Namen ersetzt.

Die Gefühle dessen, was wir mit solche Bilder verbinden, lässt sich einfach nicht beschreiben. Das Ganze, Ängste, Hoffnungen, Schmerzen, die wir in diesen Bildern sehen, lässt sich niemals mit Bildern allein abbilden. Genauso wenig wie ein Hochzeitsfoto, ein Konfirmations- oder Urlaubsfoto die Stimmung und Gefühle dieses speziellen Momentes, des besonderen Tages auffangen kann. Auch können Bilder nicht den besonderen Geruch aus Kindertagen, oder das Gefühl des Berührt-Werdens einfangen. Das Bild ist nur ein Teil eines größeren Ganzen, der sich eröffnet.

Aus vielen einzelnen Teilen wird ein neues Gesamtes. Auch Begriffe beschreiben mehr als nur die Buchstabenfolge. Liebe, Freiheit, Geborgenheit, Bewegungsfähigkeit – das sind alles solche Begriffe, die weit mehr sagen, als nur die Buchstaben, die diese zusammensetzen.

Atom – 5 Buchstaben von 26 und doch viel mehr als nur 5 Buchstaben.

Krieg – 5 Buchstaben und doch unbeschreiblich für die, die es erleben müssen.

Tsunami – 7 Buchstaben und irrsinniges Leid. Gepaart mit den 5 Buchstaben von Atom  - ergibt heute ein heute tragisches Leid, welches wir mit dem neuen Begriff Fukushima besetzen.

2.      Bibeltext

Auch der Bibeltext des heutigen Tages ist aus einigen Buchstaben, Teilen zusammengesetzt und ergibt doch eine komplexe Tragweite.
Das Johannesevangelium selbst hat einen eigenen Anspruch innerhalb vier Evangelien. Das Evangelium nach Johannes will – so die heutige Theologieforschung – das Leben, Wirken und vor allem den Tod/Auferstehung Jesu als eigenständigen dynamischen rituellen Prozess begreifen. Der Verfasser des Joh-Evangeliums will das Leben und Wirken Jesu in einen „gottesdienstlichen“ Zusammenhang sehen.
Wunder, Reden, Abendmahl sind demnach als rituelle Verfahren zu verstehen wie wir heute einen Gottesdienst in Liturgieteile, Predigt oder auch Sakramente wie Taufe und Abendmahl unterteilen. Ein Ritus ist eine festgelegte, wiederkehrte Form einer Handlung. Rituelles umgibt uns überall; das Händeschütteln, das „Gesundheit“ - Sagen beim Niesen, das Aufstehen bei der Nationalhymne und viele andere Riten im Alltag. Zwar sind viele evangelische Riten wie Tischgebete, biblische Geschichten erzählen oder Psalmodieren heute verloren gegangen, aber als Ritus vielen noch bekannt.

Unser Predigttext ordnet sich darin ein, das christliche Leben durch die Jesusgeschichten in einen Ritus, eine regelmäßig wiederkehrende Wiederholung zu bringen. Dabei mutet der Text uns viel zu, wenn man nicht die Brille der Ritualisierung für das Johannesevangelium aufsetzt. Wir sollen Jesu Fleisch essen und sein Blut trinken. (Vers 55/56) Kein Wunder, dass wir in früheren Zeiten als Kannibalen beschrieben wurden.
Zudem (Vers 64/65): Gott hat schon auserwählt, wer gerecht und wer nicht gerecht ist. Also eine Vorauswahl Gottes für uns, ob wir gerettet sind oder nicht?
Betrachten wir den Text aber durch die Brille des Schreibers – als Ritualisierung des Leben Jesu in unser Leben - , so will das Johannesevangelium die Menschen an Anfang des 2. Jahrhunderts (und heute) zu einem eigenständigen rituellen Leben im Sinne von Jesu führen. Dieser christliche Ritus soll - losgelöst vom jüdischen Ritus - einen eigenständige Dynamik erhält.
In unserem Text geht es um die Vernetzung des eigenen Lebens mit dem Leben Jesu. Es geht nicht um das Zerlegen vom Komplexen in Einzelbildern wie dies bei der MRT oder bei Buchstaben eines Wortes der Fall ist.
Das Essen vom Fleisch Jesu und das Trinken des Blutes Jesu sind Platzhalter, rituelle Sprachen für eine viel größere und weiterreichende Erkenntnis, die durch den Glauben an den Christus uns von Gott geschenkt wird.
Die Rede Jesu, die auf den ersten Blick hart, seltsam und unanständig ist – so sehen es auch einige Anhänger und flüchten – will uns Menschen dazu bringen, dass wir nicht die Buchstaben der Worte sehen, sondern die Sache hinter den Worten. Ein Ritus – der uns mit den Worten und Taten Jesu vernetzt.

3.      Christus in uns

Um was geht es dabei? Wir sollen Jesu Geist, seinen Ritus an uns (Kreuz, Auferstehung, Leben), seine Botschaft hinter diesen Worten sehen und uns mit diesen Bedeutungen dahinter vernetzen, sie verinnerlichen. Nicht die Buchstaben oder Bilder gilt es zu bewerten, sondern deren lebendigen Inhalte. Fleisch ist das Symbol für Vergänglichkeit. Blut das Bild für Leben. Nur wer – so die christliche Botschaft – beides in seinem Geist vernetzt, verinnerlicht und gleichsam unbewusst täglich lebt, wird überhaupt etwas damit anfangen können, den Leib Christi zu essen und das Blut Christi zu trinken. Denn es geht nicht um Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme beim Abendmahl wie ich das bei der Eröffnung der Winterspeisung erlebt habe. Da ging ein abgerissener Mann nach vorne, trank aus seinem Einzelkelch und war verblüfft, dass es kein Wein war. Er sprach seine Nachbarin, während das Abendmahl noch lief, an und drückte ihr den Kelch in die Hand, weil er scheinbar Wein trinken wollte und nicht das „Blut Christi“. Und als es kein oberflächlicher Wein sondern Saft war, drehte er sich um und ging. Beim Abendmahl geht es nicht um Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, sondern um die neuronal-geistige Erinnerung dessen, was damit ausgesagt wird.
Abendmahl ist das Erinnern des eigenen Geistes und Körpers an unsere Endlichkeit. Das Erinnern, dass das Einzelne nicht das Gesamte ausmacht und niemals das Ganze beschreiben kann.
Leben ist mehr als Atmen, Essen, Trinken, Sex und Gemeinsamkeit. Leben ist niemals beschreibbar, sondern nur lebbar. Die Worte „Leben“ – 5 Buchstaben ist mehr als ein Album von Fotos, Gehalts-/ Rentenabrechnungen, Biografiedaten oder gewaschene Kleidungsstücke. Leben – und das will uns der Text heute an Lätare als das „Freue dich“ mitgeben – ist der Geist, der in unserem Leben steckt. Der Geist, der in unserem Leben steckt. Es ist die Frage nach der Vernetzung unseres Lebens mit dem Leben des Evangeliums. Es geht um das Mehr im Leben unseres Lebens.

4.      Übertragung auf heute

Was heißt das: „Mehr im Leben unseres Lebens“?
Wir sind mehr als die Einzelteile unseres Selbst. Unser Bild vom eigenen Leben setzt sich sicher aus einzelnen Bausteinen zusammen. Körper, Ausbildung, Familie, Antrieb, Erfahrungen, Liebe, Trauer, Kinder. Und je nach Epoche des Lebens werde mal diese uns andere Einzelbilder wichtig.
All diese Lebens-Bausteinen geben uns die Chance unser Leben zu gestalten, zu formen und zu füllen. Gestalten, formen und füllen – das ist der Geist der Vernetzung mit dem Evangelium.
Wie aus 26 Buchstaben unseres Alphabets Worte, Sätze und ganze Abhandlungen entstehen und niemals auch im Ansatz ein Ende der Kreativität in Sicht ist, so ist das „Mehr im Leben unseres Lebens“. Unsere Fähigkeit, Dinge aufzunehmen und zu einem Neues vernetzen, ist die Aufgabe im Leben. So entsteht der Geist, der uns erneuert, weil wir durch den Geist Christi erneuert wurden. Innovation, Kreativität, Zukunft sind somit keine Gefahr gegen das Altbewährte, sondern ein Aufbruch in ein geistvolles Leben, dessen Ursprung wir aus dem Glauben Gottes ziehen.
Die Vernetzung, das Aufnehmen und Weiterentwickeln ist das „Mehr im Leben unseres christlichen Lebens“.
Diese Zusage, dass der Geist uns auch über die Schwelle der eigenen Endlichkeit, über Fehler, Missgriffe, Leiderfahrungen und selbst den Tod hindurch trägt, ist der Geist der Vernetzung Jesu. Wir erinnern und verinnerlichen uns jedes Mal beim Abendmahl daran.
Das Abendmahl erinnert uns, dass die Einzelteile nur Bruchstücke des Ganzen sind und erst die Vernetzung aus den Abschnitten eines Leben in „Mehr im Leben unserer Lebens“ machen kann. Es ist eine Verbindung der losen Enden der Tage, der Monate, der Abschnitte des eigenen Lebens zu einem vollmundigen und vernetzten Leben des eigenen Lebens.

Und das ist die Botschaft für den heutigen Sonntag: Das Mehr im Leben unseres Leben kann, darf und wird geschehen, wenn wir uns mit dem Geist Christi vernetzen.

Amen.

 

Und der Geist Gottes weise den Weg und gebe uns Hilfe in das Mehr unseres Lebens.

 

Amen.