Thema: Distanz und Nähe

Lukas 7, 36-50

1.         Einleitung

Das Zauberwort der heutigen Zeit heißt Individualisierung. Die eigene Freiräume gilt es zu entwickeln und die eigenen Fähigkeiten auszubauen. Menschen, die heute nicht mehr die Entfaltung des Eigenen oder der eigenen Persönlichkeit im Blick haben, sind nicht geeignet für die Zeit der Moderne. Unseren Kindern haben wir oder bringen wir heute diese Philosophie bei. Der Mensch hat seinen Eigenwert in sich selbst und es gilt diese Fähigkeiten zu entwickeln. Dabei nehmen wir zwar Rücksicht auf andere, aber im Mittelpunkt steht das ICH. Mein Magnum und ich – ist der Slogan einer ganzen Generation. Wollen wir das wirklich jemanden oder uns selbst verdenken? Die Nähe, die wir uns Menschen heute gestatten , ist in erster Linie eine Nähe zu mir selbst.  Ich weiß nicht wie groß Ihre Aura ist. Wie nahe dürfen Menschen zu Ihnen heran? Das Handgeben ist doch eine gute Sache, weil damit die Menschen schließlich auch auf Distanz bleiben. Distanzierte Nähe. Sicher es wird ein Kontakt hergestellt. Aber es ist der Kontakt zu Menschen mit der scheinbar nötigen Distanz. Wo will ich meine Ruhe haben? Wo will ich Nähe haben und vor allem mit wem? Wie viel Distanz benötige ich? Wie viel Nähe lasse ich zu? Der Körperkontakt ist dabei doch eine außergewöhnliche Angelegenheit. Haut auf Haut, wenn Menschen sich begrüßen oder sogar einen Wangenkuss geben. Zu den Ostblockzeiten konnten wir auch noch den Bruderkuss, den gegenseitigen Kuss der Staatmänner auf den Mund erleben. Das passt nicht – gell? Das ist zu nah? Auch beim Riechen spielt das eine Rolle. Und wenn dann der Deoroller versagt oder die Füße, dann ist der Abstand gewünscht. Und nicht nur von den Menschen, die es riechen, sondern vielleicht auch von mir selbst. Peinlich ist das. Und ich habe im Zivildienst viele ältere Menschen erlebt, denn das körperliche Leiden der Inkontinez, Blasenschwäche, unangenehm war. Distanz wurde deshalb aufgebaut. Wie viel Nähe lassen Sie zu? Sitzt ihr Stuhlnachbar nun zu dicht? Berührt er Ihre Aura? Wir entwickeln diese Aura des Ichs heute stärker, weil sich alles um das ICH dreht, um den Einzelnen.

2.         Textbezug

Der Predigttext spricht das Thema von Distanz und Nähe an und vom Umgang damit. Jesus als Fresser und Weinsäufer, wie er in den Verse vor dem Predigttext von Lukas bezeichnet wird, geht einer seiner Lieblingsbeschäftigungen nach. Er lässt sich einladen zum Essen. Diesmal kein Zöllner, sondern ein Bibelgelehrter; Pfarrer würde wir heute sagen. Also alles beim Alten? Natürlich nicht. Diesmal beschreibt Lukas, was es bedeutet Jesus nahe zu kommen. Eine Frau, die wenig angesehen ist, salbt Jesus Füße mit Tränen und Öl. Dahinter verbirgt sich ein Ehrenerweis. Vergleichbar ist dies mit der Verbeugung vor einer hohen Persönlichkeit oder der Bitte um ein persönliches Autogramm. Verblüffend ist, dass die Frau von hinten an Jesus herantritt. Für uns, die wir heute auf einem Stuhl bei einem Festessen sitzen, ist das ungewöhnlich. Wenn aber – wie in diesem Fall – Jesus liegend isst, dann wir dies verständlich. Jesus liegt also nun in einer Runde und schlemmt genüsslich. Diese stadtbekannte Frau, mit der die meisten Anwesenden auf Distanz gehen, tritt an Jesus heran, wäscht ihm die Füße und salbt sie mit Öl. Sie erweist Jesus einen zärtliche, erotische Nähe. Es ist etwas wohltuendes. Sie können es vergleichen mit einer Haarwäsche im Frisörladen. Man kann es nur genießen. Nähe, Zweisamkeit – die anderen im Saal sind ausgeschlossen. Die Distanz zwischen dem Gastgeber und dem Gast wird merklich größer und wenn es nicht Palästina wäre, würde sicher das Wasser im Glas gefrieren, so eisig dürfte die Reaktion im Saale sein. Und sofort keimt der Neid und Unverständnis auf. Der Gastgeber, Simon mit Namen, muss bei Lukas herhalten für diesen Neid. Vielleicht spielt auch etwas Eifersucht mit eine Rolle. Neid funktioniert dort wie heute immer nach dem gleichen Muster: Wenn du neidisch bist, dann mache etwas schlecht. In diesem Fall wird die Integrität Jesu, der Frau allzumal, in Frage gestellt. Passt dieser Jesus in unsere Gesellschaft, wenn er nicht auf Distanz zu der Frau geht? Es ist die Frage nach den selbstgesetzen Regel einer Gesellschaft, in die nur jemand gehört, der auch die Regel von Distanz und Zugehörigkeit kennt. Nur wer weiß, wo sein Platz ist, der ist am richtigen Platz.
Doch die Reaktion von Jesu ist so einfach wie eindeutig:
Wer gibt, dem wird vergeben (V 47) Oder anderes ausgedrückt: Nur wer selbst seine Distanz aufgeben kann, dem kann Gott auch Nahe sein. Denn dieser Gott vergibt denen, die ihr Herz und ihre Liebe öffnen. Die selbstgesetzten Distanzregeln setzt Jesus locker außer Kraft, weil er nicht die Regeln, sondern die Menschen im Blick hat.

3.         Nähe Gottes – Brücke über die Distanz

Überwinden von Distanz, sich öffnen können, ist eine urchristliche Tugend. Liebe, Nähe, Geborgenheit – das sind die Zeichen, die uns durch das neue Testament, durch das Evangelium zugesprochen werden. Es geht um Nähe und Distanz in unserem Leben als Christen. Weil Gott sich selbst aus der eigenen Distanz aufmacht, um uns nah zu sein, öffnet sich die Zeitschleuse zwischen dem Göttlichen und Weltlichen, zwischen Himmel und Erde, zwischen Wollen und Tun. In Jesus Christus ist Gott den Weg zum Menschen gegangen. Er hat eine Brücke der Nähe über die Distanz gebaut. Er macht sich auf den Weg, uns nah zu sein. Bitte, es geht dabei nicht um die distanzierte Nähe des Handschüttelns, sondern um die Nähe, die das eigene, meine und deine, Aura durchbricht und direkt uns als Menschen berührt. Es geht sogar über das Berühren hinaus, denn in der Nähe Gottes erhalten wir das Geschenk der ewigen Nähe, des ewigen Lebens – wie wir theologisch sagen - auch hier schon im endlichen Leben. Gott spricht alle an. Ob wir diese Nähe auch zulassen, das ist abhängig von uns. Ob wir bereit sind, unsere Distanz aufzugeben, abhängig zu werden oder zu vertrauen ohne Rückversicherung. Das Angebot Gottes steht wie eine Brücke zur Nähe. Sie ist in Jesus Christus von Gott selbst gebaut und hat Bestand. Die Nähe des Lebens, das ewige Leben, warte auf der anderen Seite der Brücke. Was heißt das anderes als die Nähe dessen zu erleben und fühlen, was mich im Innersten zusammen hält. Simon wollte auf der für Ihn sicheren Seite, in Distanz, bleiben. Sein Leben, seine Regeln lassen eine neue Art von Nähe nicht zu. Die Nähe Gottes, die Nähe der anderen Menschen–dafür war er nicht bereit. Ihm bliebt der Neid und das Lästern, weil er es nicht versteht.

4.         Übertrag

Und heute? Wie ist es mit unserer Nähe zu Gott und den Anderen bestellt? Haut, Sex und Sexualität, das Intime wird heute so selbstverständlich nach außen gekehrt, dass es die kalte Distanz der Gesellschaft noch deutlicher macht. Das Neidverhalten, auf dem nicht zuletzt die größten Boulevard-Zeitungen ihren Erfolg begründen. Der Voyeurismus vieler TV Sendungen ist ebenso nichts anderes als mit Distanz die Verletzung von Nähe zu beobachten.

a) Nähe zu Gott: Wie halten sie es mit der Nähe Gottes? Kommt an meine Haut, an mein Herz mehr als Wasser, Seife und.? Rührt mich dieser Gott an. Ist meine Aura bereit die von Gott geschlagene Brücke zu gehen? Es ist einfach. Denn Nähe baut sich dadurch auf, dass ich mich anvertrauen kann. Meine Fehler, meine Schwächen, meine Distanzhemmnisse. Die Brücke zu Gott ist die Brücke des Anvertrauens. Was sage ich Gott? Was berede ich? Wie öffne ich mich? Sicher im Stillen aber auch durch die Nähe zu Anderen.

b) Nähe des Anderen: Distanz und Nähe zu den Mitmenschen – ist das zweite Thema. Nicht alles meiner Distanz werde ich aufgeben. Aber auch hier geht es um die Frage des Anvertrauens, des Bereit seins für den Weg über die Brücke zu gehen. Auf Menschen zugehen. Ihnen die Chance geben, die Gott auch uns gegeben hat, das ist die Aufgabe.

Und das ist die Botschaft für den heutigen Sonntag:
Wo immer du bist? Wie nahe oder fern du bist, der Nähe Gottes darfst du dich anvertrauen und das Vertrauen anderen Menschen weitergeben.

Und die Nähe Gottes, die unbegreiflicher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus unserem Herrn. Amen