Predigt zur Ordination am 11. Juli 1998, Heilig-Geist-Kirche, Frankfurt

1.   Einleitung

Bibel und Strukturanfragen

No risk, …. No return. Leben ohne Risiken führt auch kaum zu brauchbaren Ergebnissen. Und die Entwicklung der Zukunft setzt Ordnung und Strukturen voraus.

So ist die erste Erkenntnis, die uns durch den Aufbau der Bibel  - ob Altes oder Neues Testament – vermittelt wird, denkbar einfach.

Leben ist ohne Ordnung und ohne Strukturen nicht möglich.

Das Tohuwabohu im ersten Schöpfungsbericht (Genesis 1,1) wird gestaltet, geordnet und für gut befunden. Das Chaos erhält eine Struktur; es wird in eine Ordnung überführt. Sicher, exegetisch, historisch gesehen ist diese Erkenntnis relativ spät. Sie ist in das 5. vorchristliche Jahrhundert einzuordnen. Dennoch beginnt das geordnete Alte Testament mit dieser Erkenntnis.

Auch das Neue Testament startet für den Leser/ die Leserin mit einem ordnenden Hinweis. Im Evangelium nach Matthäus verdeutlicht der Stammbaum Jesu die Einbindung in die bestehende israelitische und jüdische Tradition und somit in die bestehende und vorherrschende Ordnung. Die Genealogie Jesu verweist auf die Lebens- und Strukturzusammenhänge, in die Jesus hineingewirkt und –gelebt hat.

Auch selbst die Geschichte der Entstehung des Neuen Testamentes, seines Kanons und der dazugehörigen Schriften spiegelt eine Geschichte von ordnenden und strukturellen Anfragen und Phasen wieder. Ausgelöst durch vorhandene Sammlungen von Schriften und vor allem durch den sogenannten Ketzer Marcion im 2. Jahrhundert nach christl. Zeitrechnung wird der Versuch, die Bibel zu ordnen bis in das 16. Jahrhundert andauern.[1]

Kurz und gut: Diese angestrebte Sichtweise der Bibel, die christliche Grundlage ist und bleibt, kann zu einer anderen Exegese verleiten, die Struktur, den roten Faden jenseits der konkreten Texte zu suchen. Vergleichbar mit dem "König David Bericht" von Stefan Heym, der zwar plastisch einen gut lesbaren Roman um Davids Wirken schreibt, dem aber als strukturelle Basis eine massive Kritik an der damaligen DDR zugrunde liegt.

Biblische Inhalte und deren Strukturanfragen

Selbst in der konkreten inhaltlichen Betrachtung biblischer Stories kann der strukturanalytische Ansatz verfolgt werden:

Der Auszug der Israeliten aus Ägypten – Exodus – kann als Befreiung aus bestehenden Strukturen und als Neuanfang in neue Strukturen hinein gesehen werden.

Auch der Dekalog, die 10 Gebote, haben dieses gestaltende und ordnende Element. Die Gebote gestalten und ermöglichen gesellschaftliche, religiöse Strukturen für einen entstehenden oder in einem sich entwickelnden israelitischen Staat.

Oder die Propheten. Was beschreiben die Gerichtsworte – Ermahnungen an Nachbarstaaten, den eigenen Staat, den König oder auch an gesellschaftliches Verhalten - anderes als kritische und massive Anfragen an bestehende Ordnungen und Strukturen, Normen und Gewohnheiten.

Ob das nun Amos ist oder auch Obadia, das läßt sich bei allen Propheten – Heils- oder Unheilspropheten - genauso exegetisch belegen.

Im Neuen Testament und den tradierten Stories von und um Jesus tritt das strukturhinterfragende Element noch stärker zu Tage.

Beispiel Bergpredigt: Sich nur mit den vordergründigen Inhalten zu beschäftigen, ist lohnend. Aber bietet das wirklich alles, was strukturell intendiert ist? Geht es in der Bergpredigt wirklich nur um eine aktive individualethische Handlung? Oder steht im Grunde mehr dahinter?

Was beschreibt die Bergpredigt:

Z.B. Ich töte jemanden, wenn ich, 'Du Narr' zu ihm sage? (Mt. 5,21ff)

Ich breche die Ehe, wenn ich ansehe und begehre? (Mt. 5, 27ff)

Ich verleugne, wenn ich beim Schwören mehr als nur binäre Formeln (ja, ja oder nein, nein) verwende? (Mt. 5, 33ff)

Ich heuchle, wenn ich jemanden bewerte? Es ist dies Aussage von Balken im eigenen Auge. (Mt. 5, 7ff)

Wer das als bare Münze nimmt, sollte sich auch die Kehrseite ansehen. Tritt nicht der ethische Inhalt, als das konkrete Tun, gerade hier in den Hintergrund gegenüber einer ethischen Grundauffassung; einer methodischen Überlegung?

Diese Aussagen sind vielmehr eine radikale Anfrage an das bestehende Denken und Handeln von Menschen in Strukturen und vorgegebenen Ordnungen.

Es lassen sich aus diesen Stories der Bibel, ob alttestamentliche Prophetie, oder neutestamentliche Bergpredigt zwei Anforderungen an uns heute herauslesen.

Einerseits: Nutze deinen Verstand, um kritisch zu sein, um Strukturen und Ordnungen zu  hinterfrage. Und diese Hinterfragen muß mit dem Blick geschehen, was und wie der Mensch in den Strukturen gesehen und behandelt wird. Die Mitte bildet der Mensch.

Zweitens: Nicht nur Kritik üben, sondern gerade ein Moment des kreativen Gestaltens von neuen und besseren Ansichten, von neuen Denkweisen und effektiveren Strukturen wird gefordert. Auch hier bildet der Mensch die entscheidende Größe. Die Frage muß beim Neugestalten lauten: Nutzt die Struktur dem Menschen oder der Mensch der Struktur.

Jesu Christi Tod und Auferstehung als radikalste Strukturanfrage

Warum ist gerade der Mensch diese normative Größe für die Beurteilung von Neuem oder von Beurteilung von Altem? Die theologische Antwort liegt in dem begründet, was uns als Christen und Christinnen bewegt. Unser Glaube spiegelt sich einzig und allein im Horizont von Kreuz und Auferstehung.

Jesu Christi Tod und Auferstehung ist nämlich die radikalste und die einzigartige Anfrage an Ordnungen und Strukturen, die diese Welt erlebt hat. Sie wird nicht durch Menschen gestaltet, sondern durch Gott selbst. Diese Tat Gottes durchbricht die Distanz zwischen Profanem und Sakralem, zwischen Sünde und Gnade, zwischen Menschen und Gott selbst gesehen werden. Das Aufbrechen zwischen Himmel dort und Welt hier, zwischen Gott dort und Mensch hier, zwischen Gnade und Verdammtsein wird einzigartig und radikal überbrückt. Das ist schließlich die Tradition, die wir predigen und tradieren. In heutiger Sprache ausgedrückt, könnte diese Aussage lauten: Es bedarf mehr als nur des eigenen Willens, um Grenzen, Barrieren und Strukturen, die uns einengen, zu durchbrechen. Das muß von außen kommen.

2.   Strukturanfragen im Managementbereich

Das war nun sehr theologisch, teils pastoral. Ich gebe das zu. Diejenigen von euch und Ihnen, die mich als Managementtrainer, Projektleiter, Organisationsentwickler oder als Inhaber der Agentur – aim kennen, mögen nun irritiert sein. Die Bibel hinterfragt Strukturen und fordert neue bessere, effektive Formen des Zusammenlebens fördern. Alles schön und gut. Was hat das mit dem realen Leben, mit Unternehmensführung, Profiterhöhung, Marketing zur tun?

Die Antwort ist einfach. Im Managementbereich ist gerade unverzichtbar, kritisch zu hinterfragen, aber auch kreativ zu gestalten. Daß nicht immer das Kriterien der Mensch dabei ist, was und wie wird verändert, halte ich aus betriebswirtschaftlichen Gründen für fatal. Zwar fördern zur Zeit alle gängigen Organisationsentwicklungsmodelle die Soft-Skills, also die weichen Führungsanforderungen wie kommunikative, zwischenmenschliche oder  kreative Aspekte von MitarbeiterInnen. Aber – weiß Gott – noch nicht effektiv genug; sowohl führungstechnisch als auch profitmäßig.

Strukturen zu hinterfragen und neue Ordnungen aufzubauen, ist gut. Aber der Index, die Basis, um zum Beispiel Trainingsprogramme oder Strukturmodelle zu entwickeln und zu realisieren, ist selbst wieder kritisch zu hinterfragen. Ob das die Entwicklung des Fehlzeitenprogramms war oder die Umsetzung von prozeßoptimierenden Systemen bis hin zu TQM, Total Quality Management – dieses kritische Korrektiv ermöglicht eine kreative Neugestaltung.

Das gilt nicht nur für die Wirtschaftsunternehmen wie Automobilfirmen, Versicherungen, Maschinenbauunternehmen, die wir betreuen oder in denen wir unsere Verantwortung wahrnehmen, sondern auch für den Konzern EKHN. Knapp 1 Milliarde Umsatz und über 2000 Führungskräfte bei über 10.000 MitarbeiterInnen.

Da sind Themen wie Profit-Center, Kundenorientierung, Betreuuung der Stamm.- und Neukunden, ebenso angesagt wie im Wirtschaftsbereich.

Bewegung ist da in der Kirche. Es wurde Zeit. Und diejenige, die mich kennen, wissen wie sehnsüchtig ich auf diesen Moment gewartet habe.

3.   Predigttext

Der Predigttext für diesen Gottesdienst steht im Amtsblatt der EKHN, 7/98, S.191, "Ordnung und Leitung":

(Und er hat einige als Apostel eingesetzt, einige als Propheten, einige als Evangelisten, einige als Hirten und Lehrer, damit die Heiligen zugerüstet werden zum Werk des Dienstes. Dadurch soll der Leib Christi erbaut werden. Epheser 4,11.12)

Die Gemeinde braucht zur Gestaltung ihres Lebens und zur Entwicklung ihrer Arbeit Ordnungen und Leitung, für die Kirchenvorstände und Leitungsgremien verantwortlich sind. Dabei gehören geistliche und materielle Fragen zusammen. Die christliche Kirche bezeugt auch durch ihre Organisationsform, ihre Ordnung und den Umgang mit dem ihr anvertrauten Vermögen ihren Glauben an Gott, den Schöpfer und Herrn der Welt."

Hier wird von 2 Aspekten gesprochen: Ordnungen und Leiten.

Diese beiden Aspekte der Lebensordnung der EKHN betrachte ich nun aus der Sicht eines Kreativen Begleiter und eines Kritischen Begleiters.

Kritischer Begleiter von Ordnungen

Die angestrebte Neuorientierung der EKHN wurde mit Prioritätensetzungen – und Ressourcenkonzentration tituliert. Kritisch anmerken muß ich hier in aller Deutlichkeit, daß zur Zeit fast nur noch von Ressourcenkonzentration (ehrlicherweise von Ressourcenreduzierung) gesprochen wird. Eine Prioritätensetzung ist scheinbar nicht mehr gewünscht oder gefordert. Begründungen, in denen Prioritätensetzung zugunsten von methodischen Überlegungen ('Wir müssen alle gleich behandeln) verschoben werden, verschleiern das Problem und den Weg für eine theologische, kirchliche und strukturelle  Lösung.

Kreativer Gestalter von Ordnungen

Die zweite christliche Aufgabe ist Ordnungen, auch kirchliche Ordnungen und Strukturen, kreativ zu gestalten. Ich kann hier natürlich nicht das Gesamtbild der Kirche und die Ordnungen und Strukturen der Kirche darlegen. Ich will es anhand eines Punktes tun. Kreativer Gestalter könnte sein, daß das, was sie heute mit dem Begriff Mediation gehört haben, aktiv als ordnendes Moment in die Debatte miteingebracht wird. Mediation als Methode, Konflikte und Entscheidungsprozesse zu fördern, könnte die Ordnung dafür sein, wie Ordnungen gestaltet und entwickelt werden könnten.

Dazu werden finanzielle als auch zeitliche Spielräume zu ermöglichen sein. Diese betriebswirtschaftliche Weisheit ist einfach: No Risk, no Investment no Return.

Kritischer Begleiter von Leitung

Leiten, das heißt,  entscheiden und verantworten. Es bedeutet, nicht nur Prioritätensetzungen vorzunehmen und Ressourcenkonzentration zu durchzusetzen, sondern sich in diese Verantwortung bewußt hineinzustellen. Sowohl im Prozeß der Entscheidungsfindung wie auch im Veranworten der Entscheidungen. Leiten ist immer individuell zu sehen; auch wenn eine Gruppe entscheidet. Niemand wird sich der Verantwortung entziehen können. Ich muss kritisch anmerken, daß in meinen Gesprächen mit Mitgliedern von Gremien zu den Prüfaufträgen vielfach eine Verschleierungstaktik gesehen wird. Von den Kosten abgesehen. Wir reden hier von mindestens 50.000 DM betriebswirtschaftliche Kosten pro Prüfgruppe, die durch Personal-, Fahrt- und Ausfallkosten entstehen. Ob dieses gewählte Verfahren wirklich effektiv ist, wird sich zeigen.

Kreativer Gestalter von Leitung

Leitung kreativ zu gestalten bedeutet für mich konkret, Führungsverantwortung zu fördern und zu fordern. Die Ausbildung zum Pfarrer/ zur Pfarrerin weist dort eklatante Lücken auf. Gerade diejenigen, die jetzt keine Anstellung bekommen, merken es bei Vorstellungsgesprächen. Das, was gefordert ist, ist eine „Initiative Solidarität“, wie ich sie bezeichnen will, die zum Ziel hat, Kompetenzen, Leitungskompetenzen, bewußt zu fördern und auch zu gestalten. Seien wir froh über Menschen, die nicht in der Kirche ihren Arbeitsplatz finden und dennoch als kirchliche Träger in Gesellschaft und Wirtschaft fungieren können. Viele von Ihnen sind das gute Beispiel dafür.

Und wenn es Gott gefällt, wird es so sein. Amen

 

Lied 351, 11 –13

 

[1] Daß selbst ein Adolf v. Harnack die Debatte um den Kanon wieder belebte, macht die Situation noch deutlicher.