23.06.2019 (Joh. 5, 39-47): Anspruch und Wirklichkeit

 Joh 5, 39-47

39 Ihr sucht in der Schrift, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie ist's, die von mir zeugt;

40 aber ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet.

41 Ich nehme nicht Ehre von Menschen;

42 aber ich kenne euch, dass ihr nicht Gottes Liebe in euch habt.

43 Ich bin gekommen in meines Vaters Namen, und ihr nehmt mich nicht an. Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr annehmen.

44 Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, und die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist, sucht ihr nicht?

45 Ihr sollt nicht meinen, dass ich euch vor dem Vater verklagen werde; es ist einer, der euch verklagt: Mose, auf den ihr hofft.

46 Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben.

47 Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben?

1.      Einleitung

Als ich am Donnerstag, vor drei Tagen, also am heiligen katholischen Feiertag Fronleichnam im Auto saß, machte ich mir Gedanken um diese Predigt. Der mir aufgegebene Predigttext behandelt eigentlich nur ein Thema: Wie passen Anspruch und Wirklichkeit zusammen.

Ich war also an diesem heiligen Tag der Katholischen ziemlich unheilig, nämlich sehr eilig nach Prenzlau unterwegs. Und für die, die wissen, wo Prenzlau liegt, also so 150 km HINTER Berlin, können es sich nun vorstellen, warum ich es so eilig hatte - an diesem heiligen katholischen Feiertag. 750 km zwischen Anspruch und Wirklichkeit, eine Strecke wohl gemerkt. Als ich nun - so in der moderaten Flug-Geschwindigkeit der klassischen Engel - über die  A4 (Bundesautobahn) Richtung Osten dahinflog; verschwand um mich herum die Welt mit ihren Möglichkeiten.

Denn die Autobahn war komplett leer und ich konnte das, was so ein dahinfliegen hergibt, komplett ausreizen. Es war wie in einem Rausch. Die Welt und das Leben rasten an mir vorbei, während ich in einer scheinbaren Kapsel der Glückseligkeit und der Singularität (abgeschottet wie in einem faradayischen Käfig) der Zukunft entgegen flog.

Wie verhält es sich eigentlich mit dem Anspruch, den wir an die Welt und das eigene Leben haben, und der Wirklichkeit, die uns umgibt?

Ich weiß nicht, ob Sie auch in einem Gefährt sitzen des eigenen Lebens, welches mit unsagbar Geschwindigkeit dem Osten, der Zukunft entgegen strebt, also der Region, wo die Sonne aufgeht? Wie ist es mit Ihren Ansprüchen, mit Ihren Wünschen, die Sie in ihrem Leben vor sich her tragen? Wie ist es mit den Wünschen, die wir aufgrund der Geschwindigkeit, mit der wir uns durch das Leben bewegen, schon längst unsichtbar hinter uns gelassen haben? Wie ist es mit den Ansprüchen und Wünschen, die jetzt noch vor Ihnen stehen, egal in oder mit welchem Gefährt (sei es Flugzeug, Auto, E-Roller oder Rollator) Sie im Leben unterwegs sind, egal wie alt Sie sind, egal mit welcher Power und Geschwindigkeit Sie der aufgehenden Sonne entgegen streben?

Sind diese Wünsche was Privates, vielleicht ein harmonisches Leben in der Partnerschaft, das Aufwachsen der Kinder zu sehen oder gerade der Wunsch der Eltern, dass die Kinder auf die rechte Bahn kommen? Oder frage ich mich: Vereinsame ich? Oder ist es eine Frage nach beruflicher Geborgenheit, Sicherheit, Ruhe, Kontinuität, die nicht allein durch das Chaos der Welt, des Wetters, des „Weiterveränderns“ bestimmt wird?

Was sind die Ansprüche und die Wünsche, die Sie haben an das Leben; also an das (IHR) Leben, welches sie verwalten? Ein Leben, welches sie vielleicht schon den größten Teil seines Alters gelebt ist? Waren Sie ein/e gute Verwalter/in des eigenen Lebens? Was möchten Sie noch sehen, was möchten Sie hinterlassen; oder auch, wem? Wie möchten Sie vielleicht sehen, dass ihre Erben mit Ihrem Erbe umgehen? Oder spüren Sie schon die Ungeduld, mit der ihre Verwandten an ihnen zerren, damit sie endlich das Erbe antreten können? Was sind Ihre Wünsche, Ansprüche? Ich weiß es nicht. Aber die Frage, die sich mir im Freiflug in den Osten gestellt hat, als ich mit einer zwei vor dem Komma der aufgehenden Sonne entgegen strebte, ist die des Predigttextes:

Wie passen eigentlich die Ansprüche mit meiner Wirklichkeit zusammen? Wie ist das mit dem, wie ich mir vorstellen, dass etwas werden soll, wie ich es mir wünsche? Soll das so Wirklichkeit werden?

Und: Wie passt die Wirklichkeit mit meinen Ansprüchen zusammen?

Ist es nicht vielmehr so, dass ich mich mit einer immer höheren Geschwindigkeit durch diese Wirklichkeit bewege und letztlich von ihr gar nichts wahrnehmen? Bin ich (die Welt) so rasant, dass wir den eigenen Ansprüchen und Wünschen nur noch wie in einem Rausch an uns vorbei fliegen sehen – oder hinterher fahren? Wie ist das, wenn Anspruch und Wirklichkeit zusammen fallen?

 

2.      Bibeltext

Wunsch und Wirklichkeit – das ist das Thema des heutigen Predigttextes. Ich lese aus Johannes Kapitel 5, 39-47

Diese Text ist eine Beschreibung einer Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Religionsjuden seiner Zeit.

Jesus kritisiert – höchst vereinfacht ausgedrückt – das religiöse Gehampel um die 613 Gebote des mosaischen Gesetzes. Dieses Gesetz einzuhalten, galt als höchste Aufgabe, Ehre und Würde bei den Frommen.

Der Anspruch Gottes soll mit der Wirklichkeit der Menschen in eins fallen; durch die Einhaltung der Gebote und Verbote; 613 wie gesagt.

Die heftige Kritik Jesus ist heute durchaus gefährlich, weil gerade eine verkürzte Denkweise immer im Hirn Risse hinterlässt; wenn also Juden generell zu Gesetzestätern statt zu Gottesgläubigen gestempelt werden.

Pauschalisierungen von Menschen als besondere Gruppen, als Fremde oder Religionsvölker sind nicht nur in Deutschland aufgrund unseres Erbes von 1933-1945 problematisch. Pauschale Urteile generell: Frauen, Arbeiter, Pfarrerinnen, Asylbewerber, Ausländer oder die Rüsselsheimer sind so oder so – dies hilft letztlich nicht weiter.

Dass es Jesus selbst war, der nur die konkrete Haltung, Handlung und nicht die Menschengruppe insgesamt angeht, wird häufig vergessen.

Anspruch und Wirklichkeit geht auseinander – das ist die Botschaft Jesu an die Religionsjuden nach dem Evangelisten Johannes: Ihr kümmert euch nur um eure Ehre, nicht um die Ehre Gottes. Also, warum strebt ihr nur nach euren Wünschen und beachtet nur die, die sich selbst ehren?

Dagegen: Glaubt an Gott und an seine Macht statt an eure eigene Erfüllungsmacht oder die Machbarkeit der Welt. Nun - das ist der Anspruch und die Wirklichkeit bei den Menschen, die Gesetze vor Gott setzen.

Aber – DAS ist es nicht, was Jesus von den Menschen, auch von den religionsnahen Menschen fordert. Jesus fordert KEINE RELIGIONSERFÜLLUNG, sondern Gottesvertrauen. Nicht die Religion, nicht eine Kirchenorganisation sind das Gegenüber der Zukunft. Und der Mensch mit seinem Ich oder Wünschen ist es auch nicht.

Das Gegenüber deiner Ansprüche und Wünsche ist Gottes Wirklichkeit.

3.      Christus als Wirklichkeit des Lebens in Gott

Wir Christen verkünden gerade dies, oder hätten es zu tun: Nicht die Wirklichkeit muss sich unserem Wünschen  anpassen. Sondern Gott hat sich als Wirklichkeit, als Realisierung des Lebens für unsere Wünsche offenbart. Nun – Man kann nun heute sagen: Wozu brache ich das? Das mit Jesus. Antwort: Nun – du brauchst das nicht mit Jesus, wenn du allein deinen Wünschen hinterherlaufen möchtest; gut zielorientiert. Mach es.

Deshalb auch die deutliche Antwort Jesu an alle selbsternannten Religions-, Traditions-, Ethik-, Schöpfungs-, Gerechtigkeits-, Friedens- und Machtwächter im heutigen Bibeltext: Keiner von denen braucht eigentlich den Glauben an und von Gott, weil diese Wächter ja sich selbst zur Allmachtinstanz ausgerufen haben, und alle Wünsche in der WELT SICH SELBST ERFÜLLEN WOLLEN. Diese Zielorientierung bis in das Ende der Verwaltung des eigenen Lebens, der eigenen Gerechtigkeit, des eigenen Friedens, der erfundenen Schöpfungsideologie oder Tradition.

Wer aber mehr als nur das Dahinjagen sein eigen nennen will; also dem Nachjagen von Wünschen und dem Nachtrauern von verpassten Chancen entkommen will, nun – dafür ist es, was Jesus in Christus Wirklichkeit werden lässt: Gott selbst ist und wird zur Wirklichkeit des Lebens.

Zu einem Leben, welche wir geschenkt bekommen haben und für Gott mit seiner unendlichen Freiheit und Klarheit verwalten dürfen. Also: Wie ist das mit der Bilanz, wenn wir unser Leben Gott wieder zurück geben und quasi himmlisch beschenkt werden wollen; für alles, was wir für das Leben, das geschenkte Leben getan, unterlassen, geredet, geschwiegen, gedacht und gesagt haben?

4.      Heute

Wie halten wir es also z.B. in der Kirche mit unseren Anspruchsillusionen und Wirklichkeitserwartungen an die Welt. Wie halten wir es mit unserer Illusion der Teelichter? Wie halten wir es in der Kirche mit der Illusion der Ganzheitlichkeit? Wie halten wir es in dieser Kirche mit der Illusion, dass wir glauben mit Kirchentagsgeschrei die Welt retten zu können, sei es ökologisch, sei es friedenstechnisch, sei es aufgrund unserer Leistung? Wie halten wir es mit einer Kirche, die selbst sich dem Anspruch hin gibt, etwas Besonderes zu sein, aber über das eigene Nest nicht in die Zukunft blicken kann? Wie halten wir es in unser Kirchengemeinde, die nicht 2400 Evangelische im Blick hat, sondern nur vielleicht 240, die sich als den Kern oder im Nest der Kirche besonders eingerichtet haben?

Wie halten wir es damit, wenn sich jemand auf meinen Platz in der Kirche oder beim Kreis setzt? Stehen wir für Teelichter ein oder für das Licht der Welt, nämlich Christus, welcher uns das Leben auch über den Tod hinaus aufzeigt? Beschäftigen wir uns in der Kirche nicht zuviel, zu ausgiebig mit uns selbst im Innenzirkel? Ist uns das Buchholz einer Figur wichtiger als der gekreuzigte Jesus? Machen wir einen Blickkontakt für alle oder nur für uns im Innenzirkel? Beschäftigen wir uns wie eine Rechtsanwaltskanzlei zu viel mit den eigenen Gesetzen und Normen und geben nur dem Kirchenrecht das Recht auf Zukunft. Wie ist das bei uns?

Am Mittwoch haben wir aus unserer Gemeinde Inge Kriegesmann, geborene Becker beerdigt. Und die Gemeinde, die Nestgemeinde hat es scheinbar gar nichts mitbekommen. Eine Evangelische, die das Evangelische in sich trug; nämlich der Organisation, den Nestern, den Pfarrern der Kirche kritisch und distanziert gegenüber sein zu dürfen.

Anspruch und Wirklichkeit von uns – das ist die Frage, gerade im Angesicht dessen, wem ich, wem wir unsere Ehre zu teil werden lassen; für ein Leben, das uns letztlich von Gott geborgt, uns endlich überlassen wurde.

Wir als Kirche könnten eigentlich uns zurücklehnen und mit Genuss, dem Geschenk Gottes entgegen sehen; selbst im Tod – wie Inge Kriegesmann es tat. Mutig, klar und mit einem unsäglichen Lebensvertrauen, was mich in einer Weise berührt hat, wie ich es kaum aussagen kann.

Nein – keine Lobhudelei hier. Denn jedes Leben ist zerrissen, zerfasert zwischen Anspruchswünschen und der Wirklichkeit des Lebens.

Aber der heutige Predigttext macht nur eines deutlich: Jesus zählt uns an. Er zählt uns an, wenn wir durch das Leben rasen und die Wirklichkeit Gottes nicht auf die Wunschliste setzen. Er zählt uns heute an, was wir aus dem geschenkten Leben machen und wie wir es gedenken an Gott zurück zu geben; mit allem was wir im Leben getan, gelassen und gehofft haben. Das will er uns heute fragen.

Und die Antwort ist einfach: Anspruch und Wirklichkeit werden eins, wenn wir in der Wirklichkeit des Lebens unseren Glaube und unsere Hoffnung mit Zukunft Gottes zusammenfallen lassen können. Denn das ist Evangelium. Die Bereitschaft, die Wirklichkeit Gottes in Christus anzunehmen.

 

Herr mache uns stark und mutig dein Geschenk an uns zu verwalten, im rasenden Leben, im hoffenden Sterben und darüber hinaus. AMEN.