14.10.2018 (1. Kor. 7, 29-31): Evangelischer Referenzrahmen

1. Korinther 7, 29-31

 

Luthertext 2017

29 Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz. Auch sollen die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine;

30 und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht;

31 und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.

 

Neue Genfer Übersetzung

29 Eins ist sicher, Geschwister: Es geht immer schneller dem Ende zu. Deshalb darf es in der Zeit, die uns noch bleibt, beim Verheirateten nicht die Ehe sein, die sein Leben bestimmt;

30 beim Traurigen darf es nicht die Traurigkeit sein und beim Fröhlichen nicht die Freude. Wer etwas kauft, soll damit so umgehen, als würde es ihm nicht gehören,

31 und wer von den Dingen dieser Welt Gebrauch macht, darf sich nicht von ihnen gefangen nehmen lassen. Denn die Welt in ihrer jetzigen Gestalt ist dem Untergang geweiht.

 

 

1.      Einleitung

Der Begriff des Referenzrahmens wird seit einigen Jahren in der historischen Forschung verwendet. Referenzrahmen.

Damit wir beschrieben, unter welchen Rahmenbedingungen Menschen ihr Leben planen, organisieren und letztlich sich verhalten. Was gibt Halt, also eine Referenz, ein Anhaltspunkt für alltägliches Verhalten. Es geht um mehr als das reine Alltagserleben, sondern der Referenzrahmen beschreibt, in welche Verhaltens- und Lebensumstände hinein wir geboren, erzogen sind und letztlich wie unser Verhalten von der Umwelt aufgenommen wird und wir uns selbst zur Umwelt verhalten.

Im kirchlichen und evangelischen Bereich sind noch viele der älteren Menschen (ich zähle mich mal dazu) in einer Umwelt aufgewachsen, wo Gebet beim Essen, Kindergottesdienst oder die 10 Gebote als Richtschnur durchaus eine wichtige Rolle spielten. Zumindest kannte man das. Dieser religiöse Referenzrahmen wird vor allem dadurch getragen wie die Menschen um uns herum in ihrem Verhalten, Reden und Tun sich den Kindern oder auch den anderen Erwachsenen gegenüber im Lebensalltag darstellen, verhalten. Dabei ist letztlich auch erheblich, ob die Handlung widersprüchlich ist, also dass einerseits frömmelnd rumgelaufen und posiert wird, während möglicherweise Zuhause mehr das Schreien, Schlagen oder die Lieblosigkeit vorherrscht.

Referenzrahmen werden für Menschen dann zu einer prägenden und lebensbestimmenden Größe, wenn das Verhalten mit dem Alltags(er) leben im Einklang steht. Dass hört sich im ersten Moment sehr toll an. Und natürlich sind Kinder und Erwachsene, die mehr in einer Showwelt bewegen, denn im Alltag, also sich nicht nach der Decke strecken, sondern nach den Sternen greifen, immer wieder bewundernd zu bestaunen. Aber wer Leben als Show lebt, fliegt nicht zu den Sternen, sondern versauert in einer Kulissenwelt, einer Theaterbühne, die häufig an der Realität wie den eigenen Kontostand, der Wohnsituation oder auch an der schiefen Nase oder den zu vielen Pfunden bricht.

Dramatischer für einen Referenzrahmen sind aber jene, die ein Umfeld erzeugen, die jegliche Menschlichkeit, jegliche Form der Verständigkeit und jede Form der Sympathie (also das Mit-Leiden) unmöglich macht. So ist der Begriff Referenzrahmen auch im Zusammenhang mit der Erforschung von drastischen Veränderungen von Lebensumständen entstanden. Konkret bei der Frage, wie sich beispielsweise Menschen verhalten, wenn Opfer systematisch als Untermenschen oder Gegner in Kriegszeiten als „Feinde“ und nicht mehr als Menschen darstellt werden. Wir wissen aufgrund der Beschreibung mit Referenzrahmen, dass Menschen sich – aus späterer Sicht – total asozial, inhuman und sogar normale Nachbar oder der eigene Vater als Massenmörder entwickeln, wenn alle um den Menschen herum es EBENSO zulassen, dass die neue Form alltagsbestimmend wird. Wenn alle über die bösen Asylanten, Juden, Ausländer oder Bayern reden, dann wird der Referenzrahmen böse. Das Modell erklärt also sehr verständlich, warum es einerseits zu großen Hilfsaktionen oder Gemeinschaftsgefühlen kommen kann, aber auch warum es Menschen innerhalb von nur drei Tagen (drei Tagen!) gelingt, dass das Böse, das Töten, das Hassen, das Ausgrenzen zum Lebensziel und –zweck erklärt. Das wirklich beängstigend ist aber: Es kann fast jede/n von uns treffen, dass er oder sie nur drei Tage von Lynchjustiz, von Ausländerhass, von Radikallösungen entfernt ist. Wenn ESSEN, Wasser, Strom oder Benzin/Heizöl/Gas ausfällt, oder wenn Krieg herrscht geht das rasend schnell. Und wenn die Lebensbedingungen sich ändern, Angstschreier uns emotional in die Ecke drängen oder Vertrauensverlust in die politische Führung befördert wird, dann sind die Wege zum unmenschlichen, zu Extrempositionen nicht weit entfernt.

Ändert sich der Referenzrahmen kann der Urinstinkt, das Überlebensraubtier das Hirn und Verhalten übernehmen.

2.      Bibeltext

Paulus versucht in seinem Brief an die Korinther Referenzrahmen des Evangeliums, also Lebensregeln für Christen aufzustellen. Korinther – ich wieder hole mich gerne – das sind die in die Gemeinde von Korinth, in der es heftig Zoff gibt und die Paulus gegen viele neue Prediger, die einen anderen Referenzrahmen, eine andere Lebenswirklichkeit erzeugen wollen, bei der Stange, beim wahren Glaubens halten will.

Es werden unzählige Lebens- und Verhaltensfragen im ersten Brief an die Korinther von Pauls aufgeworfen. Was soll der evangelische Referenzrahmen für Ehe und Ehelosigkeit (7,1), für das Leben von Singles (7,25) sein. Wie soll die Gemeinde in Korinth mit Geistesgaben (12,1) mit Götzenopferfleisch (8,1), mit der Kollekte für die verprassende Urgemeinde in Jerusalem (16,1) oder auch die Frage von Blutschande (5,1 Sohn mit Stiefmutter zusammen lebend) umgehen. Und auch die Frage nach dem richtigen Referenz-/Verhaltensrahmen bei Rechtsstreitigkeiten zwischen Gemeindeglieder vor römischen Gerichten (6,1ff), oder auch der Umgang mit Prostitution (6,12ff), oder den Missstände beim Abendmahl (11,18) oder die Art der Totentaufe (=Vikariatstaufe 15,29 – auf die sich die Mormonen berufen) selbst beantworten.

Der Predigttext für heute ist dabei ein kleiner Auszug aus der Frage von Eheverhalten, dem Umgang mit sexuellen Lüsten bzw. dem Singledasein.

Ich lese aus dem 1. Korintherbrief 7, 29-31; nur drei Verse.

Nach Paulus bleibt wenig Zeit, um richtig zu leben. Ob damit die restliche Lebenszeit bis zur Wiederkunft Christi – wahrscheinlich – gemeint ist, oder die eigene Lebensspanne bis zum eigenen Tod; genau lässt es sich nicht festlegen.

Den evangelischen Referenzrahmen will Paulus aber festzurren, indem er eine Prämisse, eine Verhaltensregel für alles ausgibt, ein Slogan:

Lasst euer Leben nicht durch die alltäglichen Dinge bestimmen!

Macht euch frei von den Zwängen, dass die Referenzrahmen der Welt für euer Leben Gott gegenüber bestimmen wollen.

Kurz: Seid fähig, das Evangelium in allem zu sehen. „Seht auf eure Berufung“–so bestimmt es Paulus schon zu Beginn des Briefes (1. Kor. 1, 26).

3.      Christus – Evangelium als Referenzrahmen

Diese Berufung ist letztlich nichts anderes als das Evangelium in Christus. Und dieser Referenzrahmen ist TÖRICHT. Er ist töricht, weil zunächst ein Verurteilter und hingerichteter Schwerstverbrecher die Gnade Gottes in der Welt als neuen Referenz-/Verhaltensrahmen repräsentieren soll. Das Evangelium ist nur eines: Töricht, weil wir uns eben nicht an den Referenzen der Welt, den Modetrends, dem Alltagsverhalten der Umwelt oder dem Gequatsche von Angst hingeben. Die Botschaft ist letztlich einfach und verstörend zugleich: Was der Welt so wichtig ist, erscheint unter der Gnade Gottes banal, einfältig und ANFÄLLIG für Herdentrieb.

Die wesentliche Botschaft für Paulus in Christus lautet nicht, dass wir keine Ehe, keine sexuellen Begieren, keine Rechtsstreitigkeiten haben oder keine Vermögen anhäufen sollen. Die Antwort im Evangelium leitet vielmehr an, NICHT ANFÄLLIG zu werden; und diese Güter, Meinungen, gesellschaftliche, politische Richtungen als unsere Erlösung anzusehen. Dem Anfall durch die Welt an uns treten wir töricht entgegen. Denn die törichte Botschaft des Evangeliums erlöst nicht durch eigenes Verhalten im Referenzrahmen der Welt, sondern durch Geschenk in Christus.  

4.      Heute

Somit ist unsere Aufgabe heute einfach:

Kindern einen Referenzrahmen der Sicherheit und vor allem der Gewissheit zu geben, die nicht in Spielzeug, Fernsehen oder anderen Äußerlichkeiten, sondern im Erziehen zur Menschlichkeit, zum Anleiten Rechte und Freiheit des Gegenübers zu sehen, Opfern zu helfen und Besitz als Möglichkeit zu Leben und nicht als Bedingung, die gegen alle zu verteidigen sei.

Jugendlichen zu zeigen, was es bedeutet, Evangelisch erwachsen zu sein und so zu leben, dass gemeinsames Leben eine zu gestaltende Zukunftsaufgabe ist und bleibt.

Erwachsenen zu verdeutlichen, dass das Streben nach Macht, Reichtum, Erfolg letztlich im Horizont der Referenz des Evangeliums eine orgiastische Sucht ist, die nach immer mehr und immer mehr für mich drängt.

Uns Ältern gilt es als Aufgabe, der eigenen Lebensverengung auf das Lebensende hin nicht in Panik, in Angst und letztlich Altersegoismus münden zu lassen.

Das alles ist nicht einfach: Denn die Welt macht uns vor, macht uns Angst, alles gehe den Bach runter. Das Gegenteil ist Fakt, Realität; sowohl im Medizinischen, bei Rente, bei Frieden, bei der Ökologie, beim Hunger der Welt, bei Verkehrstoten oder auch nur beim Vermögen oder Wohlstand der Massen. Die Aufgabe im Alter – egal wie alt! Wir auch sind - ist nicht Angst, sondern Gebet, Gewissheit und Zuversicht. Mut, Gelassenheit, Zuversicht – das war meine Konfirmationsbotschaft an alle. Es ist der Referenzrahmen des Getauften, weil Gewissheit durch Christus in uns eingeflossen ist.

Selbst wenn die Welt mit ihren Tagesschauen immer verstärkt Unheil, Konflikte und Kritik in den Mittelpunkt stellt, ist das Leben in unserem Referenzrahmen einfach nur eines: „gut“. Das will Paulus uns heute deutlich machen: Seid töricht der Welt gegenüber und ihren Angst-Referenzen und den Bedenken-Rahmen, die Menschen bauen.

Weder Traurigkeit, Ehe, Besitz oder Freude soll uns bestimmen wie ein Referenzrahmen, ein Gängelband, ein Lebenssinn. Der Lebenssinn ist nur eines: Gottes Gnade in Christus, die dir, mir und uns geschenkt ist als mutiges Vorangehen, gelassenes Erwarten, zuversichtliches Wissen.

Amen.

Herr, schenke Mut, Gelassenheit und Zuversicht, damit unsere Leben als Referenz deiner Gnade für die Welt dienen kann. Amen.