31.12.2017 Silvester / Thema: Bilanz des Lebens

2. Mose 13, 20-22: 

20 So zogen sie aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste.

21 Und der HERR zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten.

22 Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht.

 

1.      Einleitung

Die Kunst des Bleigießens oder Molyubdomaine [die Molyub (griech: Blei) domantie (griech: Weissagung)] ist so ziemlich in unserer Gesellschaft verloren gegangen. Weissagen aus „in Wasser gegossenem Blei“ ist hinsichtlich seiner Prophetie und Weissagekunst seit jeher eher unterbelichtet. Ebenso die Kaffeesatzleserei. Gibt es wirklich! Vor allem an Silvester. Bei beiden verlorenen Eigenschaften geht es um dasselbe: Um das Lesen der Zukunft für eine bestimmte Person. Aus „Verformungen“ (Blei oder Kaffeesatz) oder „Verhaltensweisen“ (Vogelflug; oder Murmeltierbeobachtungen) soll auf ein zukünftiges Ereignis geschlossen werden; vorrangig ob Glück oder Unglück über die „belesene“ Person hereinbricht.

Zudem ist der heutige Tag so etwas wir ein wiederkehrendes Ritual des kollektiven Selbstbetrugs. Denn Silvester gilt als der Tag der guten Vorsätze, weil scheinbar der Start in ein neues Jahr diese Form der Veränderung irgendwie angeraten ist.

In kompletter Abkehr von dieser heutigen eher Belustigungs-Ritua­lisierung möchte ich einmal beschreiben wie das bei mir zuhause war, als ich noch klein war: im Hessischen Hinterland, also jener ultra-frommen Region, die kärglich und abgegrenzt zwischen den Hügel von Rheinischen Schiefergebirge mit Westerwald und Rothaargebirge liegt; zwischen den Städten Siegen und Marburg.

Meine Großeltern waren wie viele andere im Ort auch Nebenerwerbslandwirte. Wir hatten Kühe und Schweine und Felder für Getreide und Ackerbau. Dazu waren unsere Vorfahren eine Art Wanderarbeiter in Siegen, Wetterau oder bis hier ins Ried. In Groß-Gerau steht ein Hinterländer in Bronze gegossen mit einer Kiepe, einer Art Rucksack. Denn die Männer im Hinterland strickten Strümpfe und verkauften diese bis ins hessische Ried.

Also Silvester bei uns war immer die Bilanz des vergangenen Jahres. Es ging weniger um gute Vorsätze, vielmehr um eine schonungslose Nabelschau. Mein Opa hatte ein rotes kleines Büchlein schon während des Jahres immer wieder mit Daten und Fakten zur Aussaat oder dem Setzen von Kartoffeln ebenso angelegt wie auch die Anzahl und Kosten für das Viehzeug oder auch die Menge an Restholz, die wir uns unserem Wald mühsam mit Säge und Viehzeug und Traktoren rausholten.

So kamen erstaunliche Dinge zutage: Wie viel Kilogramm Kaffee, Kartoffeln verbraucht, wie viele Pfund Fleisch- oder Mettwurst verzehrt oder wie viele Zinken an den Heurechen durch neu geschnitzte Rechenzinken ersetzt werden mussten. Zudem gab es eine Kostenaufstellung für Kleidung oder sonstiges, was angeschafft wurde. Für mich als Kind war diese Aufstellung der Großeltern, bei denen meine Eltern und ich unter einem Dach mit zwei Küchen wohnten, aber lediglich mit einer Toilette und einer Art Separeebad, welches zur Waschküche für alle sich öffnete.

Besonders in Erinnerung war die Art der Beurteilung von Veränderungen zum Vorjahr, die seitens meiner Großeltern ernsthaft besprochen und erörtert wurden. Immer noch eingetaktet in den Ablauf der Jahreszeiten durch einerseits die Landwirtschaft und die Selbstversorgung mit Grundnahrungsmitteln, von Eiern, Fleisch und Wurst durch Hausschlachtung war dieses Verhalten meiner Großeltern für diese lebensbestimmend.

Denn in der Bilanz wurde Rückblick, Rechenschaft und letztlich auch geplanter Ausblick für das nächste Jahr, die nächste Anschaffung oder auch meine Schulentwicklung genommen.

Und insofern war für sie und auch mich Silvester ein Hort der Beständigkeit, weil wir alle am Tisch wussten von 10 bis 65 Jahren, dass das Leben in einem festen Rhythmus eingebetet ist. So war es auch nicht das Bleigießen, sondern das Gebet um die Annahme und das Behüten für das neue Jahr 1973, welches den Abschluss meiner Großeltern bildete.

2.      Bibeltext

Auch unser Bibeltext entführt uns in eine Zeit des Umbruchs und der Beständigkeit. Text lesen.

Die Israeliten sind aus Ägypten durch eine Revolution geflohen, quasi ausgebrochen wie Gefangene. Das Schicksal des neuen Weges ist ungewiss, die Zukunft eine offene. Aus diesem Blickwinkel ist die Sklaverei mit ihren festen Ordnungen schon ein Segen gewesen, weil die Unsicherheit keinen Platz hatte; die Freiheit aber auch nicht.

Nun in der zweiten Etappe der Fluch benötigt das Volk eine Stütze, eine neue Ordnung, die den Ausbruch der Sklaven in die Freiheit zu einem Aufbruch in die eigene Zukunft werden lassen kann.

Diese Ordnung ist einfach: Gott ist sichtbar. Gott ist greifbar.

Sichtbar und greifbar aber nicht wie die anderen ägyptischen Göttern aus Bronze oder aus Stein, sondern in wirkliche und sich bewegende Erscheinungen, die die Macht des Gottes deutlich machen, der das Volk aus der Sklaverei führt. Eine Wolkensäule und eine Feuersäule weisen dem Volk den Weg in die Zukunft. So ungewiss die Zukunft auch sein mag, sie ist und bleibt eine Zukunft im Angesicht der Zeichen und Gegenwart Gottes.

Theologisch wird mit dem Exodus, dem Auszug oder dem Ausbruch des Volkes aus Ägypten eine der wesentlichsten Fundamente des jüdischen Glaubens ausgedrückt: Gott befreit. Gott befreit aus der Sklaverei von Weltmächten. Gott befreit in eine neue Zukunft. Er befreit von Unrecht und Entfremdung. Er befreit und er führt ins Morgen. Gott führt aus einer versklavten Situation in eine befreite Situation und lässt das Volk nicht allein.

Das Volk hat noch keinen Plan, wo es sich niederlassen soll. Es kennt noch keine Kanaan, noch keine 10 Gebote, die der wandernden Bewegung letztlich eine erste und wesentliche gesellschaftliche Struktur geben. Das Volk hat noch kein Haus, Tempel oder Grundstück. Die Menschen sind allein auf sich und das Wandern angewiesen.

Diese Ur-Erfahrung wird bis heute im Judentum vermittelt. Die 10 Gebote beginnen mit: Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat. Und ein wesentliches jüdisches Fest ist das Sukkot-Fest, das Fest der Laubhütten. Einerseits im Blick auf Ernte und andererseits im Bewusstsein, dass man auf der Wanderung aus Ägypten keine Häuser hatte, sondern nur provisorische Hütte.

Die Wolken- und Feuersäule sind Zeichen des mächtigen Gottes, die Ordnung, Struktur und Sicherheit vermitteln können.

3.      Christus als Sicherheit anderer Art

Für uns Christen wird diese Verheißung in Christus fortgeführt und auf alle Welt und jeden Menschen ausgedehnt.

Sichtbar wird diese Ordnung und Führung Gottes aber nur dann, wenn man diese auch für sich annehmen kann.

Dass die Kreuzigung Christi und seine Auferstehung eine Torheit für die rationale Welt ist und bleibt und schlicht Närrisch ist, braucht nicht betont zu werden. Gottes Zeichen ist eben keine Logik, nichts, was das Gehirn rational verarbeiten kann. Wie soll man auch vertrauen, Liebe, Gnade oder Gerechtigkeit rational „verstehen“ können. Denn unsere Versuche des Verstehens sind letztlich ängstliche Klagen vor der Unsicherheit.

Die größte Unsicherheit oder – neu deutsch - „Kränkung“ des aufgeklärten Menschen ist aber die Ungewissheit über das Ziel, das Ende des Lebens und darüber hinaus. Hierauf ist Kreuz und Auferstehung die Antwort gegen Unsicherheit, Schicksalsfragen oder schlicht die Ohnmacht, dass Zukunft unerbittlich auf uns zukommt und wir – begrenzt – Einfluss haben. Hier ist die Antwort, die Sicherheit über das Leben und die Ordnung hinaus: Jesus Christus führt, leitet, rettet aus diesen Ängsten.

Unsere Antwort, die ich als Kind vorgelebt bekam, ist das Gebet.

4.      Heute

Was ist die Bilanz in unserem Leben; in meinem, in Ihrem?
Welche Muster, Hilfen und Ordnungen entwickeln wir, wenn es um unseren Blick in die Zukunft geht?

Ob Blei gießen wirklich hilft, ob Kaffeesatzleserei sicherer macht? Wohl kaum. Denn, was wir hören wollen, ist nicht die Wahrheit, sondern eine Beruhigung. Der Wahrheit ins Auge zu blicken, vermögen die wenigsten. Oder wären Sie freudig, wenn Sie wüssten, dass in 2018 der Keller unter Wasser steht, eine Beziehung in die Brüche geht, eine Krankheit oder gar der Tod an die Tür klopft. Wären wir bereit diese Nachrichten aus dem Blei oder Kaffeesatz zu hören?

Bei meiner Familie habe ich eines gelernt. Verschließe nicht die Augen vor der Bilanz des Jahres, vor der Bilanz deines Lebens. Vertröste dich nicht auf später oder auf gute Vorsätze, sondern nimm – im Bewusstsein der Gnade und Liebe Gottes in Christo – dein Leben als Aufgabe an. Zukunft ist immer auch Zukunft über den Tod hinaus; egal wie schwer, wie leicht, wie unsicher oder wie gepolstert wird in das neue Jahr gehen.

Meine Oma sagte immer: Wer mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Wer mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Auch dies ist eine Wahrheit, die gelernt, gelebt und im Gebet ausgehalten werden kann und darf.

Silvester – das ist die Bilanz des Lebens, unseres Lebens.

Letztlich sind die Daten, wie viel Fleischwurst ich in 2017 gegessen, Kilometer zurückgelegt oder Heizkosten verursacht habe, wie viele Chipstüten im Angesicht meiner Lust den Vernichtungstod fanden, wie viele Gottesdienste ich besucht habe oder wie viele Gebete ich für andere und für mich gesprochen habe, oder wie viele Lachfalten oder Tränen mich begleitet haben, - letztlich sind all diese Daten nur eines: Ein Hinweis auf den ordnungswillen der Menschen. Und sofern Gott es ist der wie eine Wolken- oder eine Feuersäule vor uns herzieht, wird diese Ordnung auch in 2018 getragen sein von seiner Güte.

Denn die Gewissheit ist, dass wie bei meiner Oma ausgedrückt, wir den Weg der Zeit gehen, deshalb gehen wir mit der Zeit aus diesem Leben. Schließen Sie diesen Altjahrsabend ab: mit einem Gebet.

Und so sind wir getragen wie Bonhoeffer es ausdrückte: Von guten Mächten wunderbar umgehen, erwarten wir getrost was kommen mag, denn Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Amen.

 

Herr, du unsere Zuversicht, Herr unsere Zukunft, schenke uns die nötige Ruhe, Gelassenheit und vor allem den Mut, immer wieder neu die Zukunft als dein Geschenk zu verstehen, zu begreifen und letztlich in diesem deinem Geschenk zu leben. Amen.