Thema: Distingenz und die Fragmente des Lebens (Matthäus 18, 15-20)

1.       Einleitung

Ich fang mal so an: Distingenz …. Dis-tin-genz.

Wenn Sie jetzt verzweifelt nach dem Duden oder einem Fremdwörterlexikon suchen, nicht nötig. Denn Sie werden den Begriff (noch) nicht im Duden finden. Distingenz ist eine Wortneuschöpfung. Im Duden finden Sie das Wort distinkt. Es bedeutet soviel wie eindeutig, klar, präzise. Distingenz beschreibt also eine besondere Eindeutigkeit, eine Klarheit, eine deutliche Struktur. Eine klare Struktur – das ist es, auf was wir uns verlassen können. Ich mache mal ein paar Beispiele. Wer von Ihnen ist mit dem Auto hier? Ich geh davon aus, dass Sie auf der rechten Straßenseite gefahren sind, an den Ampeln gehalten haben, sofern Sie rot waren. Sie und ich haben es gelernt, rechts zu fahren und die Regeln im Verkehr zu beachten. Warum tun wir das eigentlich? Warum fahren wir alle rechts, halten bei rot (na zumindest die meistern). Warum tun wir das? Ich gebe zu, dass diese Frage eigentlich dumm ist. Wir machen das, weil wir das immer so machen und um eine Sicherheit zu bekommen. Eine klare Struktur und damit Verlässlichkeit – das beschreibt unser Verkehrssystem. Es hat eine Klarheit, eine Selbstverständlichkeit, eine Distingenz eben, auf die wir uns verlassen können. Und dieses Verlassen-können ist auch der Schlüssel für Distingenz. Und je mehr Dinge im Leben klar und eindeutig geregelt sind, desto einfacher scheint Leben zu werden. Denn durch diese Strukturen, die sie und ich von Kindesbeinen an lernen und verinnerlichen, wird das Leben einfacher. Dummerweise ist aber eben nicht alles auf ewig immer klar und eindeutig. Ich mache mal ein anderes Beispiel: Steuern zahlen. Es gab mal – vielleicht – klare und eindeutige Regeln. Und ich gehe davon aus, dass sie – im Rahmen der Gesetze -teuern zahlen. Denken Sie bitte nicht nur an Lohn- und Einkommenssteuer, sondern auch an die Mehrwertsteuer bei den Brötchen, die KFZ-Steuer beim Auto, die Grunderwerbssteuer bei Immobilienkauf, die Versicherungssteuer, die Stromsteuer. Es gibt viele Steuern, viele Ausnahmen von den Regeln. Steuern scheinen eben keinen Verlässlichkeitscharakter zu besitzen. Hier scheint sich eine Struktur durch die Vielfalt der Möglichkeiten und Regelungen zu verabschieden. Distingenz ade.

Wie ist das mit dem Rentensystem? Die allgemeine Altersversorgung nimmt aber, die unklare private soll zunehmen. Oder wie ist das mit der Ehe? Wie verlässlich sind Beziehungen und Partnerschaften heute noch? Was es da heute alles gibt? Mann-Frau, Mann-Mann, Frau-Frau, Männer-Frauen, Alt und Jung. Und immer gibt was Neues. Metrosexuell - dann bleibe ich mal ruhig und warte ab, bis mir einer erklärt, was das denn nun schon wieder sei.

Und ob das Alte besser war, ist eigentlich egal, weil das Vertrauen in die Strukturen nachhaltig gestört ist. Und selbst wenn die Kirche in das Horn der Vielfalt stößt, verstehen viele Menschen die Welt nicht mehr. Die Strukturen bröckeln. Was ehemals eindeutig, klar, distinkt war, ist heute einer Beliebigkeit, einer Vielfalt gewichen. Die Klarheit geht verloren.

2.       Textbezug

Auch der Schreiber unseres heutigen Predigttextes bemüht sich redlich um den Aufbau einer klaren, einer eindeutigen Struktur.

Es geht um die Frage, wie die Urgemeinde Streitigkeiten und Zwietracht strukturell „bearbeiten“ kann. Glauben Sie bitte nicht, dass das damals alles nett und friedlich und harmonisch in der Urgemeinde zuging.

Nein, die Urchristen waren ein so bewegtes Völkchen wie alle anderen Menschen auch. Neid, Missgunst, Verantwortlichkeitsdiskussionen und - wie der Predigtext beschreibt - Regelungen für Personalgespräche in der Urgemeinde. Das Wort „Personalgespräche“ wird in Wirtschaftsunternehmen dann verwendet, wenn es um Verfehlungen von Mitarbeitern geht, die ggf. ausgeschlossen. Auch im Text geht es schließlich um diese strukturelle Möglichkeit: V. 17: Hört er nicht auf die Gemeinde, so sei er für dich ein Heide (ein Ausgestoßener). Entlassung auf biblisch – um nichts anderes geht es hier. Der Text versucht, Frieden und Harmonie zu strukturieren. Hier wird davon stillschweigen ausgegangen, dass der der den anderen zurechtweisen soll auch wirklich das Richtige und Gut unterscheiden kann. „Wer hat eigentlich recht?“, diese Frage wird zu Beginn gar nicht gestellt. Auf jeden Fall wird uns eine Art gestufte Gesprächsführung für mögliche Abweichler von der Norm entwickelt. Diese Struktur soll sicherstellen, dass die Gemeinschaft wieder Verlässlichkeit, Eindeutigkeit, Klarheit bekommt. Der Text ist komisch, um es mal einfach auszudrücken. Der Ausgeschlossene soll mir dann wie ein Heide und Zöllner sein? Sind das nicht gerade die, denen sich Jesus im Besonderen zugewandt hat. Und dann noch dieser Droh-Satz. Der Ausschluss des Abweichlers ist nicht nur aus der Gemeinde, sondern auch im Himmel, d.h. aus der Gnade Gottes ausgeschlossen? Hier schießt der Autor des Bibeltextes eindeutig über das christliche Ziel hinaus. Dass das selbst Matthäus schon recht heftig war, zeigt wie er den Text in die anderen Abschnitte eingebettet hat. Wie die Kinder sollen wir sein, um in den Himmel zu kommen (Kapitel 18, Vers 3f), Gleichnis vom verlorenen Schaf (Verse 10ff), und die Vergebung soll 490 mal (70 x 7mal, Vers 22) erfolgen.

3.       Das Lebensfragment und christliche Heilung

Wissen wir als Christen nicht gerade, dass unser Leben nicht eindeutig und klar geplant werden kann – Gott gegenüber. Vor Gott und – wenn wir selbstehrlich sind- ist das eigene Leben nicht klar und nicht eindeutig, nicht geradlinig, eben nicht distinkt. Sondern unser Leben ist brüchig und fragmentarisch. Dinge gelingen und misslingen, Planungen funktionieren für eine Zeit und andere wiederum sind Müll. Wir sind unterworfen den Krankheiten, Gebrechen, den Verletzungen am eigenen Körper, an der eigenen Seele und an der eigenen Persönlichkeit. Menschen verletzen und ich verletze Menschen. Der Job ist herausfordernd oder beklemmend. Der Weg, den ich im Leben gehe, ist verschlungen, tückisch, aber auch schön und befriedigend. Menschen bringen mir Sonne und sie wärmen mich. Menschen fallen aber auch über mich her wie ein Wirbelsturm. Sie hinterlassen mich und meine Persönlichkeit wüst und ramponiert. Und ich tue das gleiche. Das Leben, was wir uns bauen, unterliegt den Falten im Gesicht, den Krankheiten, Verletzungen, dem Verlust eines geliebten Menschen, den Gebrechen, die wir durch Geburt, Unfall oder Alter zu erleiden haben. Nein, unser Leben ist nicht gradlinig, nicht distinkt. Es ist und wird durchzogen sein von der Gewissheit, dass ihr Leben und mein Leben brüchig sind.

Es ist der Glaube an das Heil in Jesus Christus, der uns trägt und tragen will. Der uns hält und halten möchte, in all dieser Brüchigkeit, in all den Fragmenten des eigenen Leben. Das Heil, das Wiederherstellen von Eindeutigkeit, von Klarheit, von menschlicher Distingenz, ist – so bezeugen wir unsere Glaubenserfahrung – die Gnade in Jesus Christus. Erfahren können wir als Christen dies durchaus. Diese Geborgenheit, die Klarheit, das Gehalten-werden.

4.       Leben fragmentarisch gestalten

Und das ist die Kraft, die mein und dein Leben ergreifen soll. Eindeutige Strukturen zu schaffen ist eine Aufgabe, aber immer im Bewusstsein der Vergänglichkeit. Das Leben besteht aus Beulen, Dellen und Wellen in Lebensweg und am eigenen Körper. Weil wir die Dinge nicht immer zu Ende bringen können, weil wir Fehlen und Falsch liegen, weil wir im Straßenverkehr unachtsam sind, weil wir in Partnerschaften verletzen, weil wir mit uns selbst an Körper und im Geist nicht eindeutig sind, - in diesem Wissen dürfen und sollen wir versuchen Klarheit, Struktur und Verlässlichkeit im Leben unter uns, im Unternehmen, in der Kirche, zwischen Menschen zu gestalten. Und dafür gibt es Räume, in denen das Brüchige, das Fragmentarische und das Heil, die Klarheit Gottes ihren Platz haben.

Zum einen hat es unzweifelhaft seinen Platz im Gebet. Dort, wo alles Fragmentarische seinen Ort und Raum hat. Dort, wo wir unsere Unfähigkeiten und Zerrissenheiten einen Raum geben dürften. Dort erfahren wir Zuspruch und Trost.

Zum anderen aber gerade auch im Alltagsleben. Dort, wo wir mit anderen Menschen, Strukturen schaffen um der Menschen willen. Dort, wo wir Klarheit erzeugen um der Verlässlichkeit willen. Dort, wo wir Distingenz planen und steuern um der Sicherheit willen.

Bliebe nur eines: Aufrecht und mit unserem evangelischen Bewusstsein unsere Lebensfragment zu gestalten, mit Klarheit, mit Eindeutigkeit, mit Distingenz eben.

Amen