Predigttext: Johannes 9, 35-41
Der Predigttext für den heutigen Sonntag ist ein Ausschnitt aus einem größeren Abschnitt. Dort geht es um einen Menschen, der von Geburt an blind ist, der noch nie Farben gesehen hat oder einen Sonnenuntergang. Ein Mensch ohne Bilder vom Leben, nur die Sprache, Gerüche, Geschmack und Tastsinne. Keine Bilder. Diesen Menschen heilt Jesus, so dass er zu dem, was das Leben ausmacht noch ein weiteres anderes Bild vom Leben erhält. Die Menschen, die den ehemals Blinden kennen, sind verwirrt und die Religionsführer noch mehr. Sie wollen nicht wahrhaben, was nicht wahr sein darf. Sie bedrohen auch die Menschen, damit keine Zweifel an ihrer Autorität aufkommt. Denn wer kann den Blinden geheilt haben außer Gott. So befragen die Geistlichen die Eltern, die diplomatisch auf Ihren Sohn verweisen. Der Sohn, der ehemals von Geburt Blinde lässt sich auch nicht beirren und bleibt dabei, dass Jesus ihn geheilt hat. Denn er hat seine Blindheit überwunden und seinem Leben ist ein neuer Sinn, der Sehsinn gegeben. Hier setzt nun unser Text an.
Lesen von Johannes 9, 35-41
An etwas zu glauben, ist an und für sich nicht verkehrt. Denn dadurch gebe ich meinem Leben einen Sinn und eine Richtung. Eine Richtung im Leben ist für viele Menschen nicht unbedingt das, was Sie von sich sagen können. Die meisten von uns haben nur ein kurzfristiges Ziel vor Augen, dem sie nachstreben. An etwas zu glauben, ist aber mehr. Es ist der Sinn des Lebens, der sich im Glauben an etwas manifestiert. Glauben an die Familie, an die Liebe, das Geld oder die Macht. Der Glauben an Gott ist dabei eine ganz besonderer Sache, dem eigenen Leben einen Sinn zu geben. Und doch kann auch dieser Sinn des Lebens sich zum Sinn des Todes verdrehen. Spätestens seit dem 11. September ist deutlich, dass der Glaube an einen Gott nur dann einen Sinn des Lebens in sich tragen kann, wenn dieser Gott auch ein Gott des Lebens und ein Gott gegen den Tod ist. Fanatismus ist die Form des Sinns, dass Menschen in Gedanken, Worten und Werken zu töten sind, die der eigene Vorstellung nicht anhängen.
In dramatischer Weise haben wir mit den Attentaten auf die USA erlebt wie Menschen nicht den Sinn des Lebens suchen, sondern den eigenen Fanatismus, die Blindheit vor dem Leben, versuchen anderen Menschen aufzuzwingen. Das geschieht aber nicht nur in Terroranschlägen wie New York oder Washington und Philadelphia, sondern auch in den Fanatikern, die Andersdenkende verfolgen und töten, ob es politisch Verirrte sind wie Neonazis, die Ausländer verfolgen oder religiöse Fanatiker. Es sind auch die Menschen, die fanatisch mit Worten ihre eigene Blindheit vor dem Leben verneinen und meinen, dass alle Menschen die gleiche Ansicht haben müssen. Blindheit vor dem Leben ist der Schlüssel zu dem Fanatismus, der uns das Leben rauben will. Diese Blindheit äußert sich in vielen Dingen.
Diese Blindheit des Menschen ist auch das Thema des
Predigttextes.
Der von Geburt Blinde erhält durch Jesus einen weiteren Sinn im Leben. Die
Diskussion, die entsteht, ist die Diskussion über den Sinn des jetzigen
Lebens. Bin ich blind, weil ich nur meinem Sinn des Lebens anhänge? Bin ich
bereit, den eigenen Sinn des Lebens einen weiteren Sinn, einen weiteren
Lebenssinn hinzuzufügen?
Die Pfarrer, die Pharisäer wollen aber nicht aus ihrer Blindheit heraus, weil
sie glauben, dass sie selbst alles wissen und alles sehen. Ihre eigene
Blindheit ist die Blindheit des Fanatismus. Sie glauben, alles und vor allem
das Richtige zu finden. Selbst Wahrheiten werden verleugnet in diesem
Fanatismus, weil es darf nicht sein, was nicht sein soll.
Jesus stellt sich klar auf die Seite des Menschen, der seinen Horizont
erweitern möchte. Dies ist seine Aufgabe, dies ist seine Botschaft. Er ist
der Botschafter Gottes, der den Menschen neue Wege für das Leben aufzeigt.
Der Sinn des Lebens liegt im „Entscheiden-Können, was hinter der Fassade
des Lebens liegt“. Blind sind die, die nicht die Grenzen des eigenen Denkens
überwinden können. Jesus selbst wird später diese Grenze durchbrechen. Er
wird Macht durch Ohnmacht überwinden. Tod durch Auferstehung. Rache durch
Liebe.
Die eigenen Grenzen zu hinterfragen und zu überwinden,
das ist die christliche Aufgabe, vor der wir stehen. Die eigene Blindheit gilt
es zu überwinden. Dabei geht es nicht nur um Fanatismus. Fanatismus ist
lediglich ein extreme Form der Blindheit vor dem Leben. Die Blindheit, die
Gott in Jesus Christus überwinden will, fängt aber schon im Kleinen an.
Gott überwindet die große Barriere zwischen dem Hier und dem Jenseits. Er
selbst weist den Weg, wie wir unser eigenes Leben wieder mit neuem Sinn füllen
sollen. Nicht das Verharren in den alten Gewohnheiten ist die Aufgabe, die
Gott uns aufträgt, sondern das Aufbrechen der Blindheit.
Theologisch ausgedrückt heißt das, dass wir uns nicht selbst erlösen können,
sondern die Gnade Gottes benötigen. Denn gerade das Denken, dass wir uns
selbst aus der eigenen Blindheit befreien könnten, ist die größte Blindheit
überhaupt. „Das ICH kann alles, wozu dann Gott“, heißt es heute
vielfach. Aber das es so einfach doch nicht ist, hat auch der 11. September
gezeigt.
Gott - mein Retter, das heißt nichts anderes als die Erkenntnis der Wahrheit,
die ich nicht selbst erreichen kann. Ich kann nicht aus meiner Haut.
Diese Erkenntnis, dieser AHA Effekt, der Wahrheit – das ist der erste Weg
die eigene Blindheit zu überwinden. Aufgerüttelt durch diese situative
Selbsterkenntnis geht es um mehr. Nicht immer wieder aufgerüttelt werden,
sondern selbst, regelmäßig sich und den eigenen Sinn zu hinterfragen – das
ist die Aufgabe als Christen.
Wir reden dann nicht mehr von Selbsterkenntnis, sondern von Selbstreferenz.
Selbstreferenz ist die Fähigkeit von Menschen über den eigenen begrenzten
Horizont hinwegzuschauen und die alltäglichen Dinge zu hinterfragen.
Hinterfragen der eigenen Position des eigenen Verhalten und der eigenen
Erkenntnis. Aber auch das Hinterfragen von anderen Positionen, das Verhalten
anderer und der Erkenntnis anderer. Das Kriterium dies zu tun, ist durch Gott
in Jesus Christus selbst vorgegeben. Es ist die Sicht des Menschen als
Mittelpunkt des Handeln Gottes; jenseits von Normen und Gesetzen, von
Ideologien oder Fanatismus. Es ist dies die Sicht, die im Glauben geschenkt
ist, die die eigene Blindheit überwindet und so auch anderen Menschen helfen
kann.
Selbstreferenz – das ist die christliche Tugend par excellence. Denn nur so
wir Neid, Hochmut, Alltagsgewohnheit und dumme Ideologie im Zaum gehalten.
Selbstreferenz ist die Befreiung von den eigenen Grenzen.
Was bedeutet das konkret; heute im Angesicht dessen, was
Fanatismus und Blindheit des Lebens ausmachen kann? Die Bilder der Flugzeuge,
die in das World Trade Center gerammt werden, haben sich in unsere Netzhaus
gebrannt. Die Symbole der westlichen Welt für Selbstsicherheit, Wachstum,
Macht und Wohlstand sind nun das Zeichen für die Zerbrechlichkeit des eigenen
Lebenstraums. Unsere eigene Blindheit, die Sicherheit, die wir dachten in
dieser westlichen Welt zu haben, hat einen Riss bekommen.
Es ist unsere Aufgabe, diesem Riss den Sinn zu geben, der ihm zusteht. Nämlich
die eigene Blindheit vor Sicherheit, vor den eigenen Grenzen und Barrieren im
Kopf zu hinterfragen. Als Christen ist es unsere Aufgabe, die Schere im Kopf,
die eigenen Eigenarten und kulturellen Vorurteile zu bewerten. Das Kriterium
ist dabei der andere Mensch und sein Lebenssinn. Die Achtung vor dem Geschöpf
Gottes ist dabei die Grenze für den eigenen Sinn des Lebens. Dort, wo
Menschen dies nicht achten, müssen wir als Menschen aber auch mit aller Härte
gegen jene vorgehen, die die Entfaltung des eigenen Lebenssinn verhindern
wollen.
Es gibt Menschen, die lassen sich überzeugen. Aber es gibt noch mehr, die
dies nicht tun. Unser Aufgabe als Christen ist der Weg der Aufklärung, des
Vorbilds, des Grenzüberschreiters.
Die Politik mag Waffen dort sprechen lassen, wo Worte vor der fundamentalen
Blindheit versagen. Unser Versagen wäre, wenn wir den neuen Sinn des Lebens,
den Jesus in Welt gebracht hat, mal zum eigenen Schutz versteht sich, hier
vergessen würden.
Jetzt sind auch wir gefordert, nicht mit Waffen der Rache, sondern mit Waffen
des Friedens, der Gerechtigkeit und der Versöhnung. Das wäre heute die
Erfahrung, die dem Blindgeborenen gleich käme. Das Wunder wäre mit Bildern
der Versöhnung, Liebe und Gerechtigkeit die Bilder von New York überwinden.
Und das ist die Botschaft für den heutigen 17. Sonntag n. Trinitatis: Hinterfrage dein Denken, Handeln im Blick auf den Sinn deines Lebens, der ein Sinn für das Leben hier und dort sein sollte. Amen
Und der Frieden Gottes, welcher höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen